Von Natur aus kreativ
wir heute über die Bedeutung von Interdisziplinarität sprechen, dann müssen wir uns Cassirerzuwenden. In den drei Bänden der „Philosophie der symbolischen Formen“ zeigt jemand mit nicht zu übertreffender Gedankenkraft, wie Wissen aus verschiedenen Bereichen integriert werden kann. Und man lernt etwas über die Verwandtschaft von Mythos, Religion, Sprache und Kunst, die jeweils unterschiedliche Trajektorien, unterschiedliche Pfade, des menschlichen Geistes repräsentieren und in dem ursprünglichen Antrieb des Menschen begründet sind, etwas zum Ausdruck zu bringen.
Lin Chen: „The Topological Approach to Perceptual Organization“, in: Visual Cognition 12 (2005), S. 553 – 637.
Das Auge ist das Fenster zum Wissen; nahezu die Hälfte des menschlichen Gehirns befasst sich mit visueller Informationsverarbeitung. Also tut man gut daran, zu verstehen oder es zumindest zu versuchen, wie wir eigentlich „sehen“. Chens Beitrag stellt einen radikal neuen und kreativen Ansatz dar, visuelle Wahrnehmung zu verstehen. Seine Theorie repräsentiert eine Befreiung von den Vorurteilen, die sich in der westlich gefärbten Wissenschaft sich über Jahrhunderte entwickelt haben. Ich bin der Meinung, dass diese neue Theorie sich nur in einem anderen Kulturkreis entfalten konnte, denn Kulturkreise können einen Rahmen dafür vorgeben, welches Maß an Kreativität möglich ist. Das ist der Kerngedanke: Unser Seh-Apparat setzt Bilder nicht auf der Grundlage von punktförmigen Reizen zusammen, die auf der Netzhaut abgebildet sind, wie bisher angenommen wurde. Vielmehr werden zunächst topologische Invarianten wie Flächen oder Kanten aus der optischen Welt extrahiert. Diese bilden die Grundlage für das, was wir sehen. Wahrscheinlich weiß Lin Chen gar nicht, dass das künstlerische Werk des russischen Malers Kasimir Malewitsch, dem Begründer des Suprematismus, die visuelle Welt ganz ähnlich zu erfassen scheint.
Carl W. Cotman & Nicole C. Berchtold: „Exercise. A Behavioral Intervention to Enhance Brain Health and Plasticity“, in: Trends in Neurosciences 25 (2002), S. 295 – 301.
Wenn wir so leben wollen, wie wir als biologische Wesen gemeint sind, dann sollten wir natürlich möglichst gesund leben. Es ist erstaunlich, wie zurückhaltend körperliche Aktivität von vielen Medizinern thematisiert wird, vielleicht aus Angst, dass man dann zu wenig Medikamente zu sich nimmt, wenn man Sport treibt. Es ist seit Langem bekannt, dass körperliche Aktivität nicht nur der Gesundheit generell förderlich ist, sondern vor allem auch den geistigen Funktionen, insbesondere bei älteren Menschen. Auch dass Sport eine antidepressive Wirkung hat, weiß man schon lange. Körperliche Aktivität erhöht den Spiegel neurotropher Faktoren im Gehirn, die für die Verbindung von Nervenzellen zuständig sind, und macht so widerstandsfähiger gegen Schlaganfälle und erhöht die Lernfähigkeit. Wenn wir etwas für die Gesundheit der Kinder tun wollen, wenn vermieden werden soll, dass viele in der nicht mehr ganz so fernen Zukunft wegen Übergewicht und mangelndem Sport am metabolischen Syndrom leiden werden (Diabetes, Schlaganfall, Herz-Kreislauf-Erkrankungen), dann muss man sie zu körperlicher Aktivität bewegen. In manchen Ländern wie China, auf die wir gerne aus politischen Gründen herabsehen, wird das bereits systematisch getan. Also: Bewegen Sie sich! So sind wir Menschen gemeint!
António R. Damásio: Descartes’ Error. Emotion, Reason, and the Human Brain, New York: Avon 1994.
Damásio zufolge war der Fehler von Descartes, das Körperliche vom Geistigen zu trennen, beide als verschiedene Substanzen zu sehen. Dieser Dualismus steht dem Monismus gegenüber, wie er als Grundposition in den modernen Neurowissenschaften seit Langem vertreten wird. Philosophisch gesprochen kann man einen solchen pragmatischen Monismus auch als empirischen Realismus bezeichnen. Dass manche diese Position herablassend als „Materialismus“ bezeichnen, muss man sich als Hirnforscher gefallen lassen, wenn man darunter versteht, dass alles Psychische eine materiale Basis hat. Denn letzten Endes ist im Gehirn alles „Chemie“. Sowohl den Vertretern eines Dualismus, und das sind wohl die meisten Menschen, als auch den Vertretern eines Monismus muss klar sein, dass sie ihre Position nicht „beweisen“ können. Man kann also die Richtigkeit der Position eines pragmatischen Monismus ebenso wenig beweisen wie die Falschheit eines Dualismus. Das
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