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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Diese Frau war noch ein halbes Mädchen, doch mit ihrem Leben schien sie längst abgeschlossen zu haben. Ihren Schmerz und Ekel ertränkte sie in Alkohol, Torturen wie am heutigen Abend ließ sie nahezu stoisch über sich ergehen. Ihr eigenes Schicksal schien ihr völlig egal zu sein. Wahrscheinlich hatte sie einfach die Kraft verloren, dagegen anzukämpfen. Warum einen Kampf ausfechten, der bereits verloren war?
    »Na, dann eben nicht!«, sagte sie, hob die Schultern und strich mir über den Pelzkragen. »Spendierst du mir wenigstens einen Schnaps? Siehst nicht so aus, als würd dich das arm machen. Bist nicht von hier, was?«
    Jetzt erst erkannte ich sie und wusste, wo ich ihr begegnet war. Ich nickte und fragte: »Du bist eine Bekannte von Ginger, stimmt’s? Ich hab euch beiden im Cloak and Dagger ein Bier ausgegeben. Am Montag. Vor der Razzia.«
    »Was denn für ’ne Razzia?« Sie schaute mich verwirrt an und schob die aufgeplatzte Unterlippe vor. Vermutlich war sie an dem Abend bereits zu betrunken gewesen. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«
    Ich kramte in meinem Gedächtnis nach dem Namen der Frau und wurde schließlich fündig: »Du bist Heather, nicht wahr?«
    »Und wenn schon«, knurrte sie und fletschte die Zähne.
    »Die Freundin von Michael.«
    »Was dagegen?« Sie schaute mich überrascht und zugleich beunruhigt an.
    »Ich besorge dir was aus der Kneipe«, sagte ich und deutete zum Lord Nelson. »Du wartest hier auf mich. Und dann bring ich dich nach Hause.«
    »Nach Hause?«, lachte sie. »Wo soll das sein?«

9
    Obwohl Heather behauptete, völlig in Ordnung zu sein und keine Hilfe zu benötigen, ließ sie sich widerstandslos von mir am Arm in Richtung Spitalfields führen. Die Brandyflasche in meiner Manteltasche war ihr Grund genug, wie eine Hauskatze zu schnurren und sich regelrecht an mich zu schmiegen. Gleichzeitig jedoch wirkte sie immer noch benommen und wankte auffallend hin und her, was nicht allein durch den Alkohol zu erklären war, den sie vermutlich im Laufe des Abends zu sich genommen hatte. Der Mann, der sie in Dutfield’s Yard so brutal misshandelt hatte, hatte ihr nicht nur das Gesicht blutig geschlagen, sondern ihr dabei auch den Schädel auf das Pflaster geknallt, wie ich eher zufällig feststellte, als sie im Nebel von einem hohen Bordstein stolperte und ich sie mit der Hand am Nacken festhielt. Das Haar unter ihrem billigen Strohhut war blutverklebt, und bei der Berührung ihres Hinterkopfes stieß sie einen gellenden Schmerzensschrei aus.
    »Du musst ins Krankenhaus«, sagte ich, als wir die Whitechapel High Street erreicht hatten. »Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung, und dein Kopf ist verletzt.«
    »Unsinn! Mich kann nichts so leicht erschüttern, und mein Schädel kann einiges vertragen!« Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche und deutete nach Norden. »Da lang!«
    »Ich weiß, wo die Dorset Street ist«, antwortete ich und zog sie von der Straße, auf der plötzlich ein Hansom Cab aus dem Nebel auftauchte und direkt vor ihrer Nase vorbeidonnerte. »Welche Hausnummer?«
    »Achtunddreißig«, sagte sie und schaute mich mit glasigen Augen an. »Woher kennst du Michael?«
    »Bin ihm ein paar Mal begegnet«, erwiderte ich ausweichend.
    Irgendwo in der Nähe schlug eine Uhr zweimal. Es nieselte, und die klamme Kälte kroch mir durch die Glieder, obwohl mein Mantel mich eigentlich hätte warm halten sollen. Heather war viel zu leicht bekleidet und schlotterte am ganzen Körper. Doch auch das schien nicht allein vom feuchten Herbstwetter zu kommen. Ich legte ihr meinen Mantel um die Schulter, doch das Zittern wurde immer schlimmer. Je weiter wir gingen, desto unsicherer wurden ihre Schritte und desto krampfhafter hielt sie sich an meinem Arm fest. Als wir uns schließlich der Dorset Street von Westen her über die Crispin Street näherten, war Heather kaum noch in der Lage, sich auf den Beinen zu halten.
    Die Nummer achtunddreißig war das dritte Haus auf der linken Seite, ein schmuckloser Backsteinbau, der sich lediglich durch die Hausnummer von den anderen heruntergekommenen Häusern in der Dorset Street unterschied. Michael Kidneys Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Es war ein ehemaliges Ladengeschäft oder Warenlager mit direktem Zugang zur Straße. Das, was früher einmal ein Schaufenster gewesen sein mochte, war mit dicken Brettern verbarrikadiert. Weitere Fenster gab es nicht, auch die Eingangstür war mit Bohlen vernagelt und geflickt. Selbst wenn die

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