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Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Vor dem Abgrund: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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Celia, dass man ihm einen der oberen Schneidezähne ausgeschlagen hatte. Auch fehlten an seiner Uniform einige Knöpfe, und der rechte Ärmel war an der Schulternaht aufgerissen.
    »Oh mein Gott«, rief sie, als sie von Adam auf den Kutschbock gezogen wurde.
    »Halb so schlimm«, sagte er, doch es klang nuschelnd, weil er den Mund nicht richtig öffnen konnte und seine Zahnlücke zischelnde Geräusche verursachte. »Es tut kaum noch weh. Und die Uniform lasse ich nähen.« Er betrachtete Celia eingehend und fragte: »Dir ist hoffentlich nichts passiert?«
    Sie schüttelte den Kopf und deutete zur offenen Ladefläche, auf der einige Säcke, Kisten, Bottiche und Korbflaschen verstaut waren. »Sind das alles Spenden?«, fragte sie und wich Adams forschendem Blick aus. Sie war froh, rechts von ihm zu sitzen und nicht ständig auf seine verunstaltete linke Gesichtshälfte schauen zu müssen.
    »Die Leute geben gern, wenn sie wissen, wo die milden Gaben hingehen«, antwortete er nickend und schlug mit den Zügeln auf die Kruppe des Pferdes. »Und bei der Heilsarmee können sie sicher sein, dass die Spenden bei den Bedürftigen ankommen. Wir sind schließlich die Armee der Armen und Benachteiligten. Uns kann man vertrauen.«
    Celia nickte und lächelte gezwungen. Sie war immer etwas irritiert, wenn Adam so sprach, als müsste er sich rechtfertigen oder Werbung in eigener Sache machen.
    »Ich muss noch nach Southwark, um Essen einzusammeln«, sagte Adam, während er mitten auf der engen Straße wendete und dabei einen Stau in beide Richtungen verursachte. »Eines der Gasthäuser im Borough spendet die Überreste des Mittagessens, wenn wir die Kübel rechtzeitig abholen und die leeren Gefäße am Abend zurückbringen. Auf dem Weg dorthin kann ich dir ein bisschen was von der Stadt zeigen.« Mit Stolz in der Stimme fügte er hinzu: »Wir fahren nämlich durch die City von London.«
    Celia verschwieg, dass sie diesen Weg bereits vorgestern nach ihrer Ankunft am Bahnhof Waterloo zu Fuß gegangen war, und sagte: »Das wäre sehr schön.«
    Der Wagen fuhr am Markt von Spitalfields entlang in westlicher Richtung und bog dann linker Hand in eine mehrspurige Hauptstraße ein, auf der es von Kutschen, Lastwagen, Handkarren und Straßenbahnen nur so wimmelte. Gleich gegenüber befand sich der Bahnhof Liverpool Street, und als sie auf der rechten Seite den Bahnhofsvorplatz passierten, der so geschäftig wie ein Ameisenhaufen und so lärmend wie ein Wasserfall war, sagte Adam mit einem schiefen Grinsen in seinem angeschwollenen Gesicht: »Genau hier hat früher mal ein berühmtes Irrenhaus gestanden. Kommt mir manchmal so vor, als wären die Geister der Irren einfach an Ort und Stelle geblieben.«
    Während sie auf der abschüssigen Bishopsgate Street nach Süden fuhren und sich dem riesigen Monument und der London Bridge näherten, erklärte Adam mit unverkennbarem Stolz, welche Sehenswürdigkeiten und Denkmäler am Wegesrand oder in Sichtweite standen und was er über ihre Bedeutung und Geschichte wusste. Doch Celia hörte nur mit halbem Ohr auf das, was Adam über das Große Feuer von London oder die älteste Brücke der Stadt zu berichten hatte. Sie kannte das meiste aus den Erzählungen ihrer Mutter, die ganze Abende damit verbracht hatte, die Hauptstadt des Königreichs zu beschreiben. Als sie auf der London Bridge im dichten Verkehr feststeckten und kaum noch vorwärtskamen, fragte Celia: »Zu welchem Gasthaus fahren wir eigentlich?«
    »Zum George Inn«, antwortete Adam etwas pikiert, weil er gerade angesetzt hatte, über die östlich gelegene Baustelle der Tower Bridge und die eigenwillige Konstruktion dieser Klappbrücke zu berichten.
    »Meine Mutter hat dort gearbeitet!«, rief Celia überrascht.
    »Im George Inn? Das ist ja interessant«, sagte Adam, während er einen Händler umkurvte, der mitten auf der Brücke Obst von seinem Handkarren verkaufte. »Das George ist eines der ältesten Gasthäuser in Southwark. Wusstest du …?«
    Jenseits der Brücke löste sich die Verkehrsstockung langsam auf. Während Adam den Wagen auf der Südseite der Themse unter einer Eisenbahnbrücke hindurchkutschierte und dabei von alten Postkutschenstationen und noch älteren Theateraufführungen in Hinterhöfen erzählte, wunderte sich Celia, dass ihr der Gedanke an die Schänke solch ein Unbehagen bereitete. Statt sich darauf zu freuen, den Ort zu sehen, an dem ihre Mutter vor ihrer Ehe als Dienstmagd gearbeitet hatte, fürchtete sie sich

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