Vor dem Frost
sage, die Wahrheit ist.«
Er beugte sich zu ihr vor. »Kannst du verstehen, wie ich mich gefühlt habe, als sie anriefen? Und erzählten, daß du nach einem Überfall in einem Krankenhaus in Kopenhagen liegst? Verstehst du das?«
»Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen gemacht hast.«
»Sorgen gemacht? Ich habe seit vielen, vielen Jahren nicht mehr solche Angst gehabt.«
Vielleicht hast du nicht solche Angst gehabt, seit ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen, dachte Linda. Sie wußte, daß die größte Furcht ihres Vaters immer war, ihr könnte etwas zustoßen. »Tut mir leid.«
»Ich frage mich natürlich, wie es werden soll, wenn du anfängst zu arbeiten«, fuhr er fort. »Werde ich ein ängstlicher Alter, der nicht schlafen kann, wenn du Nachtschicht hast?«
Sie machte einen neuen Versuch, sprach langsam, beinah überdeutlich. Aber er schien ihr noch immer nicht zu glauben.
Sie war gerade zum Ende gekommen, als Stefan Lindman ins Zimmer trat. Er hatte belegte Brote in einer Papiertüte bei sich. Er nickte munter, als er sah, daß sie wach war. »Na, wie geht's?«
»Gut.«
Stefan reichte die Tüte ihrem Vater, der sich sofort darüber hermachte.
»Was für einen Wagen hast du? Ich dachte, ich hole ihn«, sagte Stefan Lindman.
»Einen roten Golf. Er ist schräg gegenüber dem Haus in der Nedergade geparkt. Soweit ich mich erinnere, vor einem Tabakladen.«
Er hielt den Schlüssel hoch. »Ich habe ihn aus deiner Jacke genommen. Du kannst von Glück sagen, daß es so glimpflich abgelaufen ist. Wahnsinnige Rauschgiftsüchtige sind mit das Schlimmste, was einem passieren kann.«
»Es war kein Rauschgiftsüchtiger.«
»Erzähl Stefan, was du mir erzählt hast«, sagte ihr Vater mit vollem Mund.
Sie redete ruhig, methodisch, überzeugend. Genau, wie sie es gelernt hatte. Ihr Vater kaute seine belegten Brote.
Stefan Lindman stand auf der anderen Seite des Bettes und schaute auf den Fußboden. »Das hier stimmt nicht richtig überein mit dem, was die dänischen Kollegen berichtet haben«, sagte er, nachdem sie geendet hatte. »Auch nicht mit dem Geständnis des Mannes, der dich überfallen hat.«
»Was ich sage, ist wahr.«
Ihr Vater wischte sich die Hände sorgfältig mit einer Serviette ab. »Laß mich das mal von einer anderen Seite her betrachten«, sagte er. »Es ist nachweislich äußerst ungewöhnlich, daß Menschen Verbrechen gestehen, die sie nicht begangen haben. Es kommt zwar vor, das stimmt, aber nicht oft. Und besonders nicht unter Menschen, die ein schweres Suchtproblem haben. Weil die vor nichts einen solchen Horror haben wie davor, eingesperrt zu werden und den Zugang zu der Rettungsleine zu verlieren, die die Drogen für sie darstellen. Verstehst du, was ich meine?«
Linda antwortete nicht.
Ein Arzt kam herein. Er fragte sie, wie sie sich fühlte.
»Sie können nach Hause fahren«, sagte er dann. »Aber lassen Sie es ein paar Tage ruhig angehen. Und wenn die Kopfschmerzen nicht nachlassen, müssen Sie zum Arzt.«
Linda setzte sich auf. Ihr kam ein Gedanke. »Wie sieht Ulrik Larsen aus?«
Weder ihr Vater noch Stefan Lindman hatten ihn gesehen.
»Ich gehe hier nicht weg, bevor ich nicht weiß, wie er aussieht.«
Ihr Vater verlor die Geduld. »Findest du nicht, daß du schon genug Durcheinander verursacht hast? Jetzt fahren wir nach Hause.«
»Es kann doch wohl nicht so schwierig sein, nachzufragen, wie er aussieht? Du mit allen deinen dänischen Kollegen.«
Linda merkte, daß sie fast schrie.
Eine Krankenschwester kam herein und sah sie streng an. »Wir brauchen jetzt das Zimmer.«
Auf einer Liege draußen im Gang lag eine blutende Frau und schlug mit einer Hand an die Wand. Ein Warteraum war leer. Sie gingen hinein.
»Der Mann, der mich überfallen hat, war ungefähr einsachtzig groß. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er einen Kapuzenpulli trug. Der Pulli war schwarz oder blau. Er trug dunkle Hosen und braune Stiefel. Er war mager. Er sprach Dänisch und hatte eine helle Stimme. Außerdem roch er nach Zimt.«
»Zimt«, sagte Stefan Lindman erstaunt.
»Vielleicht hatte er eine Zimtschnecke gegessen«, fauchte Linda. »Ruft jetzt eure Kollegen an und fragt, ob der Festgenommene so aussieht wie der Mann, den ich beschrieben habe. Wenn ich das weiß, gebe ich bis auf weiteres Ruhe.«
»Nein«, sagte ihr Vater. »Wir fahren jetzt nach Hause.«
Linda sah Stefan Lindman an. Er nickte vorsichtig, als Kurt Wallander ihm den Rücken zukehrte.
Sie fuhren über die Brücke,
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