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Vor dem Frost

Vor dem Frost

Titel: Vor dem Frost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Erinnerung heraustrat und in Gestalt einer Frau wiedererstand. Linda starrte Birgitta Medbergs abgeschlagenen Kopf an, der, auf der Seite auf dem Boden lag. Unmittelbar daneben waren ihre gefalteten Hände. Das war alles. Kein Körper. Linda hörte, wie ihr Vater hinter ihr aufstöhnte, und gleichzeitig spürte sie seine Faust, die sie zurückzog. »Du sollst das hier nicht sehen«, schrie er. »Geh jetzt nach Hause. Du sollst das nicht sehen.«
    Er schlug heftig die Tür zu. Linda schlotterte vor Angst. Sie kletterte den Steilhang der Schlucht hinauf und riß sich ein Loch in die Hose. Ihr Vater war direkt hinter ihr. Sie liefen, bis sie zu dem großen, ausgetrampelten Pfad kamen.
    »Was geht hier bloß vor?« keuchte er. »Was geht hier bloß vor?«
    Er rief im Präsidium an und forderte die große Besetzung an. Sie hörte die chiffrierten Wörter, die er wählte, um zumindest einige der Journalisten und Schaulustigen fernzuhalten, die ständig den Polizeifunk abhörten. Dann kehrten sie zum Parkplatz zurück und warteten. Es dauerte vierzehn Minuten, bis sie in der Ferne die ersten Sirenen hörten. Während sie warteten, sprachen sie kein Wort miteinander. Linda war geschockt und wollte in der Nähe ihres Vaters bleiben. Aber er wandte sich ab, trat ein paar Schritte zur Seite. Linda verstand immer noch nicht ganz. Gleichzeitig kroch die andere Angst heran, die Angst um Anna. Es muß einen Zusammenhang geben, dachte sie verzweifelt. Jetzt ist die eine tot, zerstückelt. Schwindel befiel sie, sie ging in die Hocke und dachte den Gedanken nicht weiter. Ihr Vater sah sie und kam näher. Sie zwang sich, wieder aufzustehen, und schüttelte den Kopf. Es war nichts, nur eine plötzliche Schwäche, die schon vorüber war.
    Jetzt wandte sie ihm den Rücken zu, versuchte zu denken. Denk klar, langsam, eindeutig, aber vor allem klar! So lautete die ständig wiederholte Ermahnung, die die Ausbildung an der Polizeihochschule geprägt hatte. In jeder Situation, sei es, daß es darum ging, betrunkene Raufbolde zu trennen, oder Menschen daran zu hindern, auf dramatische Weise Selbstmord zu begehen, mußte diese Forderung nach Klarheit gelten. Ein Polizist, der nicht denkt, ist ein schlechter Polizist. Das hatte sie sich aufgeschrieben und im Bad an den Spiegel geklebt und neben ihrem Bett angebracht. Das war es, was der Eintritt ins Polizeikorps ihr abverlangte, es war buchstäblich die Schrift an der Wand. Immer klar denken. Wie zum Teufel sollte sie jetzt klar denken können, wo sie am liebsten weinen würde? Es herrschte nicht die Spur von Klarheit in ihrem Kopf, da war nichts außer der entsetzlichen Entdeckung des abgeschlagenen Kopfs und der gefalteten Hände. Und was noch schlimmer war, das, was sich von hinten herandrängte wie ein dunkler Strom, der lautlos anschwoll und über seine Ufer trat. Was war mit Anna? Neue Bilder, die sie am liebsten davonjagen würde, blitzten auf. Annas Kopf, Annas Hände. Der Kopf Johannes des Täufers und Annas Hände, ihr Kopf und Birgitta Medbergs Hände.
    Der Regen hatte von neuem eingesetzt. Sie lief zu ihrem Vater und zerrte an seiner Jacke. »Begreifst du jetzt, daß Anna etwas passiert sein kann?«
    Er packte sie, versuchte, sie sich vom Leib zu halten. »Beruhige dich. Das da draußen war Birgitta Medberg. Es war nicht Anna.«
    »Anna hat in ihrem Tagebuch geschrieben, daß sie Birgitta Medberg kennt. Und Anna ist auch verschwunden. Begreifst du nicht?«
    »Du mußt ruhig bleiben. Sonst nichts.«
    Und sie wurde ruhig. Oder wie gelähmt, und damit still. Kurz darauf waren die Sirenen schon ganz nah, das Polizeirudel war auf dem Weg, und die Wagen schwenkten mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz ein. Sie stiegen aus und sammelten sich um ihren Vater, nachdem sie Stiefel und Regenzeug angezogen hatten, die sie alle im Kofferraum bereitzuhalten schienen. Linda stand außerhalb des Kreises. Aber keiner erhob Einwände, als sie sich zu ihnen gesellte. Martinsson war der einzige, der ihr zunickte. Auch er hatte nichts gegen ihre Anwesenheit. Hier und jetzt, in diesem Moment auf dem verregneten Parkplatz von Schloß Rannesholm, trennte sie endgültig die Nabelschnur durch, die sie noch mit der Polizeihochschule verband. Sie ging am Rand der Karawane, die im Wald verschwand. Sie nahm die Autorität ihres Vaters wahr, aber auch seinen Widerwillen, als er verlangte, daß der gesamte Parkplatz abgesperrt wurde, um die Neugierigen fernzuhalten. Er benutzte genau die Worte, als spreche er

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