Vor dem Sturm
bang und fragend auf ihn zueilte. »Noch ist Hoffnung, Kind. Und nun rufe die Schorlemmer.« Erst als diese gekommen war, setzten sie sich um den runden Tisch, und Berndt las:
»Hochgeehrter Herr und Freund!
Ich habe die traurige Pflicht, Ihnen anzuzeigen, daß der Kampf dem Feinde zwei Gefangene in die Hände fallen ließ: Ihren Sohn und den Konrektor Othegraven. Ihr Sohn wird im Laufe des Vormittags unter Eskorte nach Küstrin geschafft werden, Konrektor Othegraven wurde bei Tagesanbruch am Lohhof erschossen. Mir liegt nach dieser kurzen vorgängigen Mitteilung nur noch ob, Ihnen über den Tod dieses Tapferen zu berichten. Ich schlief seit kaum einer Stunde, als ich durch eine französische Ordonnanz geweckt wurde, die mir anzuzeigen kam, daß einer der Gefangenen, der Konrektor Othegraven, mich zu sprechen wünsche. Ich kleidete mich rasch an, und der junge Soldat führte mich nach der alten Nikolaikirche hinüber, an deren Ausgängen französische Doppelposten standen. Innen sah es scharf aus; auf einer Schütte Stroh lagen die Toten; der erste, den ich sah, war Kandidat Grell.
In der Sakristei traf ich Othegraven. Er saß in einem hochlehnigen alten Chorstuhl, und die Tür stand offen, so daß er den Blick auf die Kanzel frei hatte. Er wies darauf hin und sagte: ›Sehen Sie, Turgany, hier hab ich zum ersten Male gepredigt. Mein Text war: »Selig sind die Friedfertigen«. Und dies ist nun das Ende. Das Kriegsgericht hat gesprochen, und binnen hier und einer Stunde ist es mit mir vorbei.‹ Ich nahm seine Hand, und da von Rettung oder Begnadigung keine Rede sein konnte, so fragte ich nach seinem Letzten Willen, und ob ihm das Scheiden schwer würde. Er verneinte es und setzte hinzu, daß er einmal gelesen habe, wie das Leben einem Gastmahl gleiche. Jeder habe den Wunsch auszudauern; aber wer in der Mitte des Mahles abgerufen würde, fühle bald nachher, daß er wenig versäumt habe. Und das sei wahr. Er für seinen Teil wünsche nur erst über die Trommelwirbel und das Augenverbinden weg zu sein; auch mißtraue er den Franzosen und ihrem Schießen. ›Sie tuen alles unordentlich, und den Hofer haben sie massakriert.‹ Er hing diesem Gedanken eine Weile nach und sagte dann, ehe ich noch eine weitere Frage an ihn gerichtet hatte: ›Ich habe niemand; meine kleine Sammlung fällt an Seidentopf, alles andere an das Hospital dieser Kirche. Und nun wollen wir Abschied nehmen, Turgany. Grüßen Sie diese tapfere Stadt, die mir so teuer geworden ist, und sagen Sie jedem, der es hören will, daß ich in der Hoffnung auf Jesum Christum, aber zugleich auch in dem festen Glauben stürbe, mein Leben an eine gute Sache gesetzt zu haben. Ich habe gepredigt: 'Selig sind die Friedfertigen', aber es ist auch geboten, uns zu wehren und für unser Leben und Gesetz zu streiten.‹
Und danach schieden wir. Für immer.
Eine Stunde später ward ich zu General Girard befohlen. Ein echter Franzos, menschlich und von edler Gesinnung. ›Ich konnt es nicht ändern‹, empfing er mich. ›Ein Aufstand in unserm Rücken und von ihm geleitet; er mußte sterben. So will es das Gesetz des Krieges und unsere Sicherheit. Nach seinen Mitschuldigen frag ich nicht; Ihr Volk lehnt sich jetzt wider uns auf, und wir müssen sehen, wie wir durchkommen.‹ Und danach entließ er mich sichtlich bewegt, nachdem er hinzugefügt hatte, daß der ›Directeur adjoint‹, wie er ihn nannte, ›comme un vieux soldat‹ gestorben sei.
Wir haben ihn dicht neben der Kirche, wo noch ein eingegittertes Stück von dem alten Kirchhof übrig ist, begraben. Neben ihm Hansen-Grell.
Ich schließe mit dem herzlichen Wunsche, daß der Transport Ihres Sohnes nach Küstrin ein erster Schritt zu seiner Begnadigung oder vielleicht auch zu seiner Befreiung sein möge.
Turgany
«
Das erste Gefühl, als Berndt den Brief aus der Hand legte, war das des tiefsten Dankes.
Renate umarmte und küßte den Vater, und der Schorlemmer, die nie weinte und stolz darauf war, fielen die Tränen auf die gefalteten welken Hände. Sie hatte kein Wort, und selbst ihre Sprüche versagten ihr.
Lewin lebte noch, noch also war Hoffnung. Aber eine rechte Freude wollte trotz alledem nicht aufkommen, und wenn alle bis dahin von dem Schrecken beherrscht gewesen waren, ihn vielleicht schon verloren zu haben, so beherrschte sie jetzt die Furcht, ihn jeden Augenblick verlieren zu können.
So verging eine halbe Stunde; Renate hatte das Zimmer verlassen, um auf dem Schulzenhofe nach Marie,
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