Wallander 06 - Die fünfte Frau
interpretieren es richtig. Wenn der Mörder eine Sprache hat, so können wir klar und deutlich lesen, was er schreibt.«
Wallander fiel plötzlich etwas ein, was Linda bei einer Gelegenheit |334| gesagt hatte, als sie versuchte, ihm klarzumachen, was die Arbeit eines Schauspielers eigentlich ausmachte. Zwischen den Zeilen zu lesen, den Untertext zu suchen. Er sprach den Gedanken aus. Was Linda erzählt hatte. Sie nickte.
»Ich drücke mich vielleicht schlecht aus«, sagte sie, »aber ungefähr so denke ich auch. Wir haben alles gesehen und alles gedeutet, und trotzdem wird es falsch.«
»Wir sehen das, was der Mörder uns sehen lassen will?«
»Wir werden vielleicht dazu verlockt, in die falsche Richtung zu sehen.«
Wallander überlegte. Sein Kopf war jetzt vollkommen klar. Die Müdigkeit war verschwunden. Sie folgten einer Spur, die entscheidend sein konnte. Einer Spur, die in seinem Bewußtsein schon einmal aufgetaucht war, über die er aber nie die Kontrolle gewonnen hatte.
»Das Demonstrative ist also ein Täuschungsmanöver«, sagte er. »Meinst du das?«
»Ja.«
»Mach weiter.«
»Die Wahrheit ist vielleicht genau das Gegenteil.«
»Wie sieht das aus?«
»Das weiß ich nicht. Aber wenn wir glauben, wir denken richtig, und es ist falsch, dann muß das, was falsch ist, am Schluß richtig sein.«
»Ich verstehe«, sagte Wallander. »Ich verstehe, und ich bin deiner Ansicht.«
»Eine Frau würde nie einen Mann auf Bambuspfählen in einem Graben aufspießen«, sagte sie. »Sie würde auch einen Mann nicht an einen Baum binden und ihn dann mit ihren bloßen Händen erwürgen.«
Wallander sagte lange Zeit nichts. Sie verschwand im Obergeschoß und kam nach ein paar Minuten zurück. Wallander sah, daß sie die Schuhe gewechselt hatte.
»Wir haben die ganze Zeit ein Gefühl gehabt, daß dies alles gut geplant gewesen ist«, sagte Wallander. »Die Frage ist, ob es in mehr als einer Hinsicht gut geplant gewesen ist?«
»Ich kann mir natürlich nicht vorstellen, daß eine Frau diese |335| Dinge getan haben soll«, sagte sie. »Aber jetzt sehe ich ein, daß es vielleicht so ist.«
»Deine Zusammenfassung wird wichtig«, sagte er. »Ich glaube auch, daß wir mit Mats Ekholm hierüber sprechen müssen.«
»Mit wem?« fragte sie.
»Dem Gerichtspsychologen, den wir im Sommer hier hatten.«
Sie schüttelte resigniert den Kopf »Ich bin einfach zu müde«, sagte sie. »Ich hatte seinen Namen vergessen.«
Wallander stand auf. Es war ein Uhr.
»Wir sehen uns morgen. Kannst du mir ein Taxi rufen?«
»Du kannst mein Auto nehmen«, sagte sie. »Morgen früh brauche ich einen langen Spaziergang, um klar im Kopf zu werden.«
Sie gab ihm die Schlüssel. »Mein Mann kommt bald nach Hause. Dann wird alles leichter.«
»Mir ist erst jetzt klargeworden, wie schwierig es für dich sein muß«, sagte er. »Als Linda klein war, war Mona ständig da. Ich glaube, ich war während der Jahre, in denen sie aufwuchs, nicht einmal gezwungen, nicht zur Arbeit zu gehen.«
Sie begleitete ihn hinaus. Die Nacht war klar. Es war unter Null.
»Aber ich bereue es nicht«, sagte sie plötzlich.
»Bereust was nicht?«
»Daß ich zur Polizei gegangen bin.«
»Du bist eine gute Polizistin«, sagte Wallander. »Eine sehr gute Polizistin. Falls du das noch nicht gewußt hast.«
Er spürte, daß sie sich freute. Er nickte, setzte sich in ihren Wagen und fuhr davon.
Am folgenden Tag, dem 17. Oktober, erwachte Wallander mit hämmernden Kopfschmerzen. Er lag im Bett und fragte sich, ob er eine Erkältung bekäme. Aber er spürte keine anderen Symptome. Er machte Kaffee und suchte nach Kopfschmerztabletten. Durch das Küchenfenster sah er, daß der Wind aufgefrischt hatte. Im Lauf der Nacht war eine Wolkendecke über Schonen heraufgezogen. Die Temperatur war gestiegen. Das Thermometer zeigte vier Grad plus.
|336| Um Viertel nach sieben war er im Polizeipräsidium. Er holte Kaffee und setzte sich in sein Büro. Auf seinem Tisch lag ein Bescheid von dem Kollegen in Göteborg, mit dem zusammen er den Autoschmuggel in die ehemaligen Ostblockstaaten bearbeitete.
Einen Augenblick saß er mit dem Blatt in der Hand da. Dann legte er es in eine Schublade. Er nahm einen Block und suchte nach einem Schreiber. In einer der Schubladen fand er Svedbergs Papier. Er fragte sich, wie oft er schon vergessen hatte, es ihm zurückzugeben.
Irritiert stand er auf und ging hinaus in den Korridor. Svedbergs Tür stand offen. Er legte das Papier auf den
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