Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
die experimentelle Parallele zu Borges' literarischer Erzählung. Die Parallelität entsteht nicht nur durch das unerschöpfliche Gedächtnis, das Schereschewski und Funes gemein haben, sondern auch durch die Verwandtschaft von Borges und Lurija (die übrigens gegenseitig nichts von ihren Arbeiten wußten). Borges' Geschichte ist eine literarisch-philosophische Forschung nach der Art des menschlichen Verstands. Sie hat einen authentischen, fast wissenschaftlichen Einschlag. Für Lurija auf der anderen Seite war seine Fallstudie ein Beispiel für das, was er »romantische Wissenschaft« nannte, eine Wissenschaft, die nicht auf Reduzierung und abstrakte Gesetze aus ist, sondern auf die Subjektivität von Erfahrung. Wo ersterer das Genre wissenschaftlicher Fiktion betrieb und letzterer das der literarischen Wissenschaft, entstand ein Doppelporträt eines faszinierenden Phänomens: das Gedächtnis, aus dem kein Vergessen möglich scheint.
Die Experimente begannen an dem Tag, als sich Schereschewski - im Buch im Einklang mit der klinischen Tradition mit seinem Anfangsbuchstaben bezeichnet - bei Lurija mit der Bitte meldete, sein Gedächtnis zu testen. Er war von seinem Chefredakteur geschickt worden, denn der hatte bemerkt, daß Schereschewski auch bei detaillierten Instruktionen nie Notizen machte. Der junge Journalist selbst fand das nicht so bemerkenswert, er war eher darüber erstaunt, daß nicht jeder die Anweisungen behalten konnte. Lurija war zu dieser Zeit Anfang zwanzig. Er hatte in seiner Geburtsstadt Kasan Psychologie studiert und war vor allem von Freuds Werk fasziniert. Die Psychoanalyse schloß sich dem an, was ein wichtiges Motiv in seinem wissenschaftlichen Werk werden sollte: der Anteil von Gefühlen bei menschlichem Handeln. Lurija hatte eine Monographie über die Psychoanalyse geschrieben und einige Briefe mit Freud gewechselt. Als die Psychoanalyse in Verruf geriet und in der Prawda als »biologistisch« und »ideologiefeindlich« geschildert wurde, wandte sich auch Lurija schnell davon ab. Er begab sich an die Universität von Moskau und startete dort seine lange und produktive Karriere in der Neuro-psychologie.
Als sich Schereschewski im psychologischen Labor meldet, macht er auf Lurija einen verlegenen, zerstreuten Eindruck. Um ihm einen Gefallen zu tun, führt Lurija ein paar Standardtests mit ihm durch. Er legt ihm unterschiedlich lange Listen mit Wörtern, Zahlen und Buchstaben vor und bittet ihn, sie zu reproduzieren. Was wie eine Routinesache beginnt, wird schnell zum verblüffenden Test: ganz egal, wie lang Lurija die Liste macht, 30, 50 oder 70 Elemente - Schereschewski wiederholt die Reihe immer wieder fehlerfrei, falls gewünscht auch in umgekehrter Reihenfolge oder von einem willkürlichen Punkt aus. Nach den ersten Tests ist Lurija völlig verwirrt: er ist nicht in der Lage, so etwas Einfaches wie das Messen dieser Gedächtnisleistung vorzunehmen. Das Problem ist nicht, daß die Grenze unklar ist - es gibt keine Grenze.
Bei erneuten Tests ein paar Tage später stellt sich heraus, daß das Erinnerungsvermögen Schereschewskis tatsächlich keinem einzigen der üblichen Gedächtnisgesetze unterworfen ist. Die Gedächtnisspanne, die Anzahl der Elemente, die jemand nach einem einzigen Angebot fehlerfrei reproduzieren kann, beläuft sich bei den meisten Menschen auf etwa sieben Elemente - Schereschewski reproduziert Reihen von hundert Elementen. Die Durchschnittstestperson kann Wörter, die etwas bedeuten, deutlich besser behalten als sinnlose Silben - Schereschewski kann auch lange Listen nahezu identischer sinnloser Silben fehlerfrei wiederholen. Normale Reproduktion verschlechtert sich, wenn vor oder nach dem Lernen ähnliches Material gelernt wurde -Schereschewski holt alles Material unverändert akkurat aus seinem Gedächtnis wieder zum Vorschein. Es scheint, als habe er ein absolutes Erinnerungsvermögen, ein Gedächtnis, in dem die Spuren nicht vorläufig und fragmentarisch sind, sondern permanent und vollständig.
Die Tests laufen immer ungefähr gleich ab. Lurija liest langsam eine Liste von Wörtern oder Ziffern vor, Schereschewski schließt die Augen oder starrt abwesend in die Ferne, wartet, bis Lurija fertig ist, konzentriert sich noch ein paar Minuten und wiederholt dann die Liste in der von Lurija gewünschten Reihenfolge. Als Lurija eine Tabelle von 50 Ziffern auf die Liste setzt, läßt Schereschewski seine Augen zwei, drei Minuten langsam an den Spalten entlangwandern.
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