Was die Toten wissen
Erbe nicht antreten.«
Etwas leiser fügte sie hinzu, obwohl die Mädchen nicht in der Nähe waren und sich für diese Über-den-Zaun-Unterhaltung gar nicht interessierten: »Drogen.«
Entsetzt versuchte Miriam, Dave dazu zu bringen, das Haus wieder zu verkaufen, selbst wenn sie dabei Geld verlieren würden. Sie könnten sich auch etwas suchen, das näher an der Innenstadt war, sagte sie ihm, wissend, dass es ihm gefallen würde, sich in einer der alten Stadtvillen in Bolton Hill niederzulassen. Das war noch vor der Zeit der Ein-Dollar-Häuser, vor der Wiederbelebung der Innenstadt, aber auf Miriams Riecher für Immobilien war schon damals Verlass. Hätte Dave ihren Rat befolgt, hätten sie am Ende ein Haus gehabt, das sehr viel mehr wert gewesen wäre. Denn die Preise für ihre Ecke im Nordwesten Baltimores stagnierten viele Jahre.
Und die Mädchen wären selbstverständlich noch am Leben.
Das war Miriams persönliches kleines Spiel, von dem sie nicht lassen konnte, so wenig hilfreich es auch sein mochte. Drehe das Rad der Geschichte zurück und ändere ein einziges Detail. Nicht den Tag selbst, das wäre zu auffällig, zu einfach. Das Schicksal der Mädchen war von dem Moment an besiegelt gewesen, als Sunny beschloss, den Nachmittag in der Mall zu verbringen, und Heather alles daransetzte, mitzukommen. Hätte Miriam das Rad der Zeit ein Stückchen weiter zurückdrehen können, wäre das Schicksal noch zu schlagen gewesen. Hätten sie das Haus in der Algonquin Lane zum Verkauf angeboten,
worauf Miriam gedrängt hatte, oder es gar nicht erst gekauft, dann hätte die Ereigniskette unterbrochen werden können. Sie fragte sich, wem es wohl jetzt gehörte, ob die jetzigen Bewohner wohl von seiner Todesgabe wussten? Ein Mord in dem Haus war schon schlimm genug, aber wenn der Käufer erst einmal die ganze Geschichte der Algonquin Lane kannte … Nein, noch nicht einmal Miriam hätte dieses Haus verkaufen können, und Miriam konnte zu ihren Glanzzeiten so gut wie alles an den Mann bringen.
Hinterher ist man bekanntlich immer klüger, aber das traf bei ihnen nicht zu. Nachdem die Mädchen verschwunden waren, hatte Dave alles nur schöngeredet. Es sei ihr Fluch gewesen, dass sie so eine glückliche Familie waren, so hatte er es vor Außenstehenden überzeugend dargelegt. Ihr Leben war zu vollkommen gewesen, deshalb mussten sie ins Unglück stürzen. In Daves Augen war die Zeit in der Algonquin Lane das Paradies schlechthin gewesen, in das irgendeine unbekannte, dunkle Macht eingedrungen war und ihnen dieses schreckliche Verbrechen aufgebürdet hatte. Selbst die Medien waren darauf eingegangen. Heutzutage hätten alle großen Nachrichtensender über die zwei vermissten Schwestern berichtet, doch damals beschäftigte sich nur die lokale Presse mit dem Fall. Im Time -Magazin stand zwar ein Artikel, in dem die Bethany-Schwestern erwähnt wurden, allerdings nur beiläufig. Womöglich hätte größeres, landesweites Interesse zur Aufklärung des Falls geführt, redete Miriam sich ein, aber vermutlich war es besser gewesen, dass niemand sich einmischte. Heutzutage bräuchte ein Amateur-Blogger noch nicht mal einen Tag, um Miriams falsches Alibi aufzudecken, ganz zu schweigen von den Schulden, die auf der Familie lasteten. Vor dreißig Jahren konnte die Polizei ein derartiges Geheimnis noch verschweigen, während die Bank stillschweigend die Hypothek tilgte. (Die Kinder gelten als vermisst und sind vermutlich tot? Dann haben die Eltern wenigstens ein abbezahltes Haus verdient.)
Daves Geschäft hatte von seiner Version der Geschichte – der Masche, wie er sie verkaufte – ordentlich profitiert, aber auch sie konnte sich nicht beklagen. Besonders im ersten Jahr wusste Miriam immer ganz genau, dass es hauptsächlich an ihrem Namen lag, wenn sich ein Neukunde ausgerechnet an sie wendete. Mitten in der Präsentation, bei der sie darlegte, wie sich ein Haus am besten verkaufte oder wie sie einem Käufer bei der Finanzierung behilflich sein konnte, ertappte sie manchmal einen der Kunden dabei, meist die Frau, wie sie sie eingehend musterte. Die unausgesprochene Frage im Raum lautete: Wie schaffen Sie es nur, weiterzumachen? Was sollte ich denn sonst tun? , war Miriams stille Antwort darauf. Was bleibt mir denn anderes übrig?
Manchmal wünschte sie sich, dass Dave sie sehen könnte, wie sie in einem Laden, dem seinen gar nicht unähnlich, arbeitete. Er würde die Ironie zu schätzen wissen – Miriam, die den »Mann mit der blauen
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