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Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
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Alkoholiker sind, lernen zu lügen, und es wird ebenfalls zu einem normalen Bestandteil ihres Lebens. Menschen, die Angst davor haben, ihren Job zu verlieren, lernen zu lügen. Und sie alle tun es aus dem einzigen Grund, den Kopf oben zu behalten. Es sollte niemanden überraschen, dass die Leute in Vietnam ebenfalls zu lügen lernten. Genauso wenig, wie es uns im Zusammenhang mit den aktuellen Kriegen im Irak und in Afghanistan überraschen sollte, wenn sich herausstellt, dass auch da mit Lügen und Halbwahrheiten gearbeitet wurde. Wer glaubt, Lügen seien ein abnormales Verhalten, macht sich etwas vor. Es mag schlecht sein, und wir mögen es für schlecht halten, aber es ist eben auch alltäglich und oft die Norm.
    Obwohl ich den militärischen und politischen Führern vorwerfe, dass sie das System nicht von oben in Ordnung brachten, was ich für eine massive moralische Verfehlung halte, wäre es viel zu einfach zu denken, es sei allein eine Gruppe hochrangiger Militärs gewesen, von der die Verlogenheit im Vietnamkrieg ausging. Wir alle, die wir dabei mitgemacht haben, sind in Zynismus verfallen, statt zu versuchen, die Dinge zu verändern. Zynismus ist die Kehrseite von Naivität. Der Zyniker ist nicht reifer als ein naiver Mensch, nur gezeichneter.
    Trotzdem ist es nicht so leicht, dass man einfach sagen könnte, es sei falsch zu lügen und deshalb zu unterlassen. Manchmal ist eine Lüge auch gut. Wobei eine sehr reife Person vonnöten ist, um zu entscheiden, wann eine Lüge angebracht ist und wann es unerlässlich ist, die Wahrheit zu sagen.
    Sophokles schreibt in seinem Stück
Philoktetes
darüber. Der Krieger Philoktetes besitzt den magischen Bogen und die Pfeile des Herakles, des großen Unsterblichen, der die Erde hinter sich gelassen hat, um bei den Göttern zu leben. Es wurde vorausgesagt, dass die Achaier die Trojaner nur mit dem magischen Bogen schlagen können. Auf dem Weg nach Troja wird Philoktetes jedoch von einer Schlange gebissen, die Wunde eitert und fault, und sie stinkt. Sie stinkt so schlimm, dass alle auf dem Schiff verrückt werden. Endlich halten es Philoktetes’ Reisegefährten nicht mehr aus, setzen ihn auf einer verlassenen Insel aus und hoffen, dass er schnell sterben wird. In der griechischen und römischen Mythologie ist der Schlangenbiss eine Metapher für Bewusstheit. Die meisten Menschen ertragen es nicht, jemanden mit einer neuen, ungewohnten Bewusstheit im Boot zu haben. Gesellschaften isolieren solche Menschen oft.
    Nachdem sie vor Troja neun Jahre nicht weitergekommen sind, erinnern sich die Achaier an die Voraussage und entscheiden sich, zwei Männer zu schicken, die, ganz gleich wie, den Bogen von Philoktetes holen sollen. Benutzen kann den Bogen allein Neoptolemos, der junge Sohn von Herakles. Aber er ist unerfahren und naiv. Also begleitet ihn Odysseus, der weder das eine noch das andere ist.
    Die Geschichte dreht sich um das enorme, unfaire Leiden, das Philoktetes hat ertragen müssen, seine Wut auf seine Achaier-Gefährten und wie ungeheuer unfair es wäre, wenn sie ihm nun auch noch den Bogen nähmen, seine einzige Möglichkeit, sich Essen zu verschaffen. Neoptolemos freundet sich mit ihm an und folgt dabei Odysseus’ Plan, Philoktetes praktisch in jeder Hinsicht anzulügen, um ihm den Bogen zu entwenden. In letzter Minute zögert Neoptolemos jedoch, weil er Mitleid mit Philoktetes hat. Da greift Odysseus ein, betrügt Philoktetes mit einer plumpen Lüge und gewinnt so den Bogen für den Sieg über Troja.
    Ich habe in Vietnam gelogen, ich habe meine Lügen aber im Gegensatz zu Odysseus nie durchgängig kontrolliert eingesetzt. Meine Lügen fielen in zwei sehr unterschiedliche Kategorien: die der Lüge als Waffe und die »der zwei Bewusstheiten«.
    Prairie Dog, oder meist P-Dog genannt, war ein achtzehnjähriger schwarzer Maschinengewehrschütze aus einem unserer östlichen Küstengettos. Wir waren im selben Zug gewesen. P-Dog bekam seinen Namen, weil er einen Trupp gerettet hatte, der in der demilitarisierten Zone festsaß. Allein und in Windeseile, beladen mit einem schweren, sperrigen M 60 -Maschinengewehr, kroch er los. Ellbogen und Knie flogen, und er gelangte in die Flanke des Feindes, nahm ihn unter Feuer und befreite so unseren eingeschlossenen Trupp. Solch eine Aktion unter schwerem Beschuss durchzuziehen, verlangt mehr als einfach nur kruden Mut. Den Namen bekam er, als ein Freund beschrieb, wie schnell und flach er vorangekrochen war: »Wie ein Präriehund,

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