Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Was es heißt, in den Krieg zu ziehen

Titel: Was es heißt, in den Krieg zu ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Marlantes
Vom Netzwerk:
wichtigsten war, ich glaubte, der Präsident der Vereinigten Staaten würde mir niemals etwas befehlen, was mich in einen moralischen Konflikt bringen könnte.
    Drei Jahre später saß ich in meinem Zimmer am University College im englischen Oxford und mühte mich zusammen mit meinem Freund John an solch einem moralischen Konflikt ab. Wir versuchten, uns zu entscheiden, ob wir unser Rhodes-Stipendium aufgeben sollten: in meinem Fall, um mich meinen Kameraden von den Marines anzuschließen, die bereits in Vietnam kämpften, oder um nach Schweden oder Algerien zu desertieren; in seinem Fall, ob er seinen Einberufungsbescheid zurückgeben sollte, was ein lebenslanges Exil in Kanada bedeutet hätte.
    Kurz zuvor, im September, hatte mein Oberkommandierender, Präsident Lyndon B. Johnson, in El Paso, Texas, eine Rede gehalten. Ich hatte sie in einem 1954 er Buick gehört, in dem ich mit einem Freund vom College durch South Dakota gefahren war. Wir waren unterwegs von Seattle nach New York, er auf dem Weg zum Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University, aus dem er schließlich zum Peace Corps wechselte, ich wollte nach Oxford und landete am Ende in Vietnam. Ich war zu der Zeit ein Second Lieutenant der Marines und vorübergehend nach Oxford abkommandiert, um mein Stipendium wahrzunehmen. [53] In seiner Rede machte Johnson eine Bemerkung über die »Cocktail-Kritiker«, Leute, die sich bei Cocktailpartys die Mäuler zerrissen, aber nie selbst die schweren Entscheidungen zu treffen hatten. Seine Bemerkung blieb mir im Kopf, während wir quer durchs Land fuhren und ich dann weiter mit meinen Mitstudenten auf der
S.S.United States
über den grauen, frühwinterlichen Atlantik. Und auch in Oxford, wo ich die beste Zeit meines Lebens hätte verbringen sollen, dachte ich jeden Tag an sie.
    Im Herbst 1967 konnte ich den Krieg politisch nicht mehr verteidigen. John und ich waren uns einig, dass er ein Fehler war. Aber ich hörte immer wieder, dass Freunde getötet oder verwundet worden waren, und ich glaube, ich klammerte mich ganz wie die verwirrte, geschlagene Frau, die fest daran glaubt, dass sich ihr Mann doch noch ändern wird und es eine Art Grund für die Tragödie gibt, an die Hoffnung, dass am Ende alles gut würde und einen Sinn ergäbe.
    John kam aus einer kleinen Stadt in Minnesota, er war der Sohn eines Fernfahrers. Obwohl es uns unsere ähnliche soziale Herkunft leichter machte, befreundet zu sein, unterschied sich John ziemlich von den übrigen Rhodes-Stipendiaten und mir. Die meisten von uns verkörperten das Bild ernster junger Männer auf dem Weg zur Macht, John dagegen hatte einen Bart, der bis zum obersten Knopf seines Arbeitshemdes reichte. Das Haar hing ihm über den Kragen. Als ich ihn auf der
United States
kennenlernte, fürchtete ich, er würde mich zu konventionell und spießig finden. Nach ein paar Wochen in Oxford stellte ich jedoch fest, dass wir die gleichen Dinge mochten. John brachte mir meinen ersten Talking Blues bei.
    Vor allem aber wollten wir beide keine Cocktail-Kritiker sein. Aus irgendeinem Grund vermochten weder John noch ich den Krieg mit unserem Studium auszusitzen. Er bedrängte uns. Wir hatten das Gefühl, uns hinter unseren Privilegien zu verstecken. Die Diskussionen wurden hitziger, die Einsätze erhöhten sich. Bleibe und sei ein Feigling, gehe nach Schweden oder Algerien und sei ein Deserteur, der nie wieder nach Hause kann, melde dich und bringe ohne guten Grund andere Leute um oder lasse dich selbst umbringen. Ich dachte an meine Freunde aus dem Marine Corps und aus der Highschool, die bereits in Vietnam kämpften und starben. Und dann war da Meg, die schöne, tiefgründige, warmherzige Meg. Ich war zum ersten Mal in meinem Leben verliebt.
    Ich fühlte mich hin- und hergerissen. Einerseits konnte ich ausharren, wo ich war, studieren, auf Partys gehen, bei meinen Freunden und vor allem bei Meg bleiben, andererseits mich zwischen einem lebenslangen Exil und dem Krieg entscheiden. Schlimmer noch: dem falschen Krieg. Wobei für mich die Weigerung zu kämpfen nicht einfach nur ein Wegducken vor der Einberufung gewesen wäre, ich wäre damit zum Deserteur geworden, was ein weit ernsteres Verbrechen war, das vor einem Kriegsgericht und nicht vor einem Zivilgericht verhandelt wurde.
    Das Studium verlor allen Wert. Wen kümmerte, was Locke, Berkeley oder Hume über die Wirklichkeit dachten? Ich konnte auf keine Party gehen, ohne an meine Freunde bei den Marines zu

Weitere Kostenlose Bücher