Was gewesen wäre
zwei allein getrunken. Astrid hatte heute morgen mit der einen Flasche genug zu tun gehabt, und erst das Rührei mit Speck brachte wieder Ordnung in ihren Magen.
»Und, Sherlock, haben wir ihn?«, fragt Paul und sieht sie aus seiner Schieflage an.
»Nein, die grausame Magyarin sagt, er sei nicht hier. Er sei es auch in den letzten Jahren nicht gewesen. Aber dir haben die beiden doch erzählt, sie würden jedes Jahr hierher kommen?«
»Also bin ich schuld?«
Paul setzt sich seine Sonnenbrille auf und quält sich aus dem Sessel. Er hakt sich bei Astrid ein und schiebt sie in Richtung der kleinen hölzernen Drehtür. »Sie haben, glaube ich, gesagt, dass sie jedes Jahr nach Budapest kommen. Nicht, dass sie in diesem Kasten hier wohnen.«
»Aber was haben sie dann hier gemacht?«
Strahlendes Sonnenlicht und Verkehrslärm empfangen sie vor der Tür. Ein Taxi hält, und der livrierte Portier öffnet die hintere Tür. »Was machen wir beide jetzt, ist doch wohl eher die Frage?«, fragt Paul. »CIA? KGB? Oder Securitate?«
»Lass uns auf die Fischerbastei gehen«, sagt Astrid und deutet auf die grün leuchtende Freiheitsbrücke. An ihr hängen wie an jeder anderen Budapester Donaubrücke unzählige Vorhängeschlösser, und auch wenn Astrid das unglaublich und geschmacklos findet und als Sinnbild für die Liebe geradezu unbegreiflich, rührt es sie doch ein wenig. Dass jemand in einen Baumarkt geht, ein Vorhängeschloss kauft, die Initialen seiner Liebe einritzt, es an dieses grüne Metall schließt und den Schlüssel in die Donau schmeißt, das beeindruckt sie weniger, als dass diese Unbeholfenheit sie neidisch macht.
»Die Fischerbastei ist auf unserer Seite der Donau, du geographische Niete«, sagt Paul. »Wie bist du nur durch das Abitur gekommen? Und wie findest du eigentlich die richtigen Gefäße am Herzen, wenn du da mit deinen Drähten rumstocherst?« Er grinst zum ersten Mal an diesem Morgen.
Sie gehen an einer mehrspurigen Straße entlang. Rechts neben ihnen liegt tief die Donau, ruhig und breit. Lange schwarze Lastkähne fahren in beiden Richtungen. Einer davon ist mit Kohlen beladen, und Paul wird sehnsüchtig, wie immer, wenn er diese Boote sieht. Sie erinnern ihn an seine Kindheit, an die ersten neunzehn Jahre seines Lebens, die er in einem kleinen westfälischen Kaff an der Weser verbracht hat. Die Weser kommt ihm bis heute überproportioniert breit vor für die kleine Stadt, wenn er dort seine Mutter besucht. Auch Astrid ist schon einmal mitgekommen dorthin. Paul wollte sie seiner Mutter vorstellen, was er nicht mit vielen Frauen in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat.
»Wir haben ja in allem nicht mehr so viel Zeit«, hat sie zu seiner Überraschung geantwortet, als er sie eingeladen hat, mit nach Westfalen zu kommen. »Meine Eltern sind schon tot, dein Vater auch. Wer weiß, wie lange deine Mutter noch lebt?« Außerdem wollte sie natürlich einen Blick in seine Jugend ergattern. Das sagte sie nicht, aber das wusste er, und ihm fiel es auch schwer, sie mitzunehmen. Sie sah schließlich sein kleines Jugendzimmer. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Poster von Marcel Răducanu an der Wand, der der Größte war damals. Mit Astrid saß er zum ersten Mal auch fremd dort in diesem Zimmer. Auf dem Bett nebeneinander, die Dachschräge berührte seinen Hinterkopf. Sie ist mit ihm durch die Einkaufsstraße gegangen, vorbei an Hemden-Möller und dem Reisebüro Althus. Auch seine Lieblingsfleischerei musste sie sich ansehen, denn immerhin gab es noch zwei davon, und beide stellten bessere Wurst her als die Nichtskönner in Berlin. Sie ließ sich sogar zu einem kalten Mettendchen von ihm überreden.
Paul hat ihr in seiner Heimatstadt von der Leere um sich erzählt, wie er eigentlich immer rauswollte aus dem Kaff und wie er doch nie ganz weggekommen ist hier und wie ein Teil von ihm geblieben ist, ohne dass er das erklären könnte. Zum ersten Mal kam ihm das vor wie auswendig gelernt. Vor der Fachwerkkirche hat er ihr von seiner größten politischen Demonstration berichtet.
»Also stell dir vor. Achtziger Jahre. Nato-Doppelbeschluss. In Bonn demonstrieren hunderttausend, und ich hänge hier allein zwischen westfälischen Kühen. Und dann haben Thomas Remer und ich uns ein Wochenende lang vor die Kirche hier gestellt. Tag und Nacht.« Astrid sah hoch zum Turm der kleinen Fachwerkkirche, als würde da immer noch ein Zeugnis sein von diesem Wochenende. »Wir hatten so eine Tafel aufgebaut, auf der
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