Was ist Demokratie
«Wutbürger»auf die StraÃe gehen, empfinden sie den Staat der parlamentarischen Demokratie oft nicht viel anders als diese vormärzlichen Vorfahren â man kann geradezu von einer «Verobrigkeitlichung» des demokratischen Verfassungsstaates in der subjektiven Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger sprechen. Auf der anderen Seite führt hinter das in den letzten drei Jahrzehnten gewonnene Bewusstsein kein Weg zurück, dass Demokratie mehr sein muss als die von Joseph Schumpeter beschriebene Bestellung einer Regierung auf Zeit durch ein wettbewerbliches Wahlverfahren, erst recht nicht mehr hinter die Praxis von Demokratie, die sich auf diese Weise verändert hat. Nur im Umfeld einer aktiven Zivilgesellschaft kann Demokratie dauerhaft bestehen â Alexis de Tocqueville würde seine Beobachtungen im Amerika des frühen 19. Jahrhunderts heute erst recht bestätigt sehen. Im Blick auf Regionen und Länder wie Russland, die sich mit der Demokratie seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart schwer getan haben, steht ein Defizit zivilgesellschaftlicher Strukturen in der Ursachenliste von Historikern und Politologen weit oben.
SchlieÃlich tritt die Zivilgesellschaft auch in Spannung zu der herkömmlichen, nationalstaatlichen Organisationsform von Demokratie. Diese Spannung artikuliert sich auf der lokalen Ebene, wo Bürgerinnen und Bürger ihre Sorgen bei einem fernen Staat oder seinen bürokratischen Auslegern, mögen sie auch letztlich durch Wahlen legitimiert sein, nicht mehr gut aufgehoben finden. Wo kommunale und föderale Traditionen eine eigenständige Demokratie an der Basis sichern, sind diese Spannungen gemildert. Deshalb sind in den letzten drei Jahrzehnten, nicht zufällig parallel zum Aufstieg der Zivilgesellschaft, Bestrebungen nach regionaler Autonomie und Selbstverwaltung, nach der Parlamentarisierung von Regionen unterhalb des Nationalstaates, immer wieder erfolgreich gewesen, in Italien und Spanien ebenso wie in GroÃbritannien, wo Schottland seit 1998 wieder über ein eigenes Parlament verfügt, das es 1707 in der Union mit England verloren hatte. Erst recht tritt die Spannung zur nationalstaatlichen Demokratie auf der globalen Ebene hervor. Die Weltgesellschaft verfügt nicht über Institutionen der repräsentativen Demokratie, wohl aber über ein dichtes Netz von Nichtregierungsorganisationen, in denen Bürgerinnen und Bürger über Grenzen hinweg Ãberzeugungen bekunden und Interessen verfolgen können â eine globale Zivilgesellschaft. «Greenpeace» und «Human Rights Watch» sind wichtige Beispiele dafür. In einer «deterritorialisierten» Welt, also einer Welt jenseits der klassischen Staatsgrenzenordnung,hat die Zivilgesellschaft mithin sogar eine Führungsrolle für die Erweiterung und Transformation von Demokratie übernommen.
2 «Wir sind das Volk»:
Bürgerbewegung, Demokratie und Revolution 1989
Die Umbrüche von 1989/90 belegen eindrucksvoll die These, Demokratisierung habe sich im 20. Jahrhundert oft beschleunigt und schubartig, in groÃen «Wellen» (Samuel Huntington) durchgesetzt. Proteste steigerten sich innerhalb weniger Wochen und Monate zur Revolution und mündeten in den Zusammenbruch der realsozialistischen Diktaturen. Im nordwestlichen Teil des bisherigen sowjetischen Einflussbereichs etablierten sich schnell und erstaunlich stabil liberal-parlamentarische Demokratien: in den drei baltischen Republiken, in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, deren Teile 1993 friedlich getrennte Wege gingen. Auch die DDR folgte diesem ostmitteleuropäischen Muster, doch konnte ihre teilstaatliche Existenz keinen Bestand haben; sie schloss sich nach einer kurzen Ãbergangszeit der westdeutschen Demokratie an. Auf dem Balkan jedoch, in Rumänien und Bulgarien sowie in den übrigen Nachfolgestaaten der Sowjetunion einschlieÃlich Russlands führte der Umbruch für längere Zeit in Unsicherheit, halbautoritäre Regime oder sogar in kriegerische Konflikte.
So fächert sich das sehr griffige Bild von der demokratischen Welle von 1989 bei näherem Hinsehen auf, in räumlicher und auch in zeitlicher Hinsicht. Denn trotz der extremen Ereignisverdichtung im zweiten Halbjahr 1989 gab es eine Vorgeschichte, die mindestens ein Jahrzehnt weit zurückreichte, auch wenn man die gescheiterten Reformversuche und Aufstände von 1953, 1956 und 1968
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