Wasser zu Wein
tat weltläufiger, als er sich fühlte. »Ich denke, man kann da was machen.« Mit der Routine eines alten Werbeprofis spielte sein Hirn schon mal die knalligsten Schlagzeilen durch.
»Unsere Argumente sind die folgenden«, sagte er. »Erstens: Die Politiker versuchen, ausgerechnet an den ökologisch wirtschaftenden Bauern ein Exempel zu statuieren, nur um das Publikum zu beruhigen und der mächtigen Rindfleischlobby nicht in die Quere zu kommen.« David gegen Goliath – Journalisten liebten solche Storys.
»Genau!« Willi hatte offenbar völlig vergessen, daß er nicht nur neuerdings ein Vertreter der Ökobauern war, sondern seine 32 Mastschweine auf ziemlich herkömmliche Weise durch ihr kurzes Leben quälte.
»Zweitens würde mit den Highlandern eine wichtige Genreserve für die Rinderzucht beseitigt.« Paul hatte das heute morgen in der Zeitung gelesen. »Und ein neuer landwirtschaftlicher Zweig, die extensive Rinderhaltung, würde nachhaltig ausgemerzt.« Martha applaudierte laut, obwohl er hätte wetten können, daß sie kein Wort verstanden hatte.
»Und drittens: Es geht nicht um ein Einzelschicksal.« Ihm entging nicht das selige Lächeln auf Willis Gesicht. »Sondern um das Überleben einer Kultur, einer Lebensphilosophie, einer Lebensform der Zukunft.«
Marianne nickte. »Genau«, sagte sie.
»Ein ganzes Dorf im Widerstand – die Geschichte werden sie uns aus der Hand fressen«, behauptete Paul mit einer Überzeugung, die er sich selbst nicht ganz abnahm. Es würde sehr schwer sein, die kleine, bunte Herde von Bauer Willi Kratz aus Klein-Roda gegen die Stimmung im Lande zu verteidigen. Die Angst vor Rinderwahnsinn war im Zweifelsfall größer.
Aber das »Dorf im Widerstand« – seine Nachbarn – klatschte begeistert Zustimmung. Hoffentlich geht das alles gut, dachte er und schob das Fahrrad durchs Gartentor. Im Vorübergehen registrierte er, daß das Geißblatt am Zaun Blattläuse hatte, brachte das Rad in den Schuppen, schloß die Haustür auf, warf den Stapel Post auf den Küchentisch und ging nach oben ins Bad duschen.
Den Brief aus Wingarten hob er auf bis zuletzt, nachdem er einen Espresso gekocht, die restliche Post durchgesehen und die Zeitung zur Seite gelegt hatte. Auch als er den Brief schließlich in der Hand hielt, den schweren weißen Umschlag mit der altertümlichen Handschrift und dem eingravierten Absender, zögerte er noch. Die Erinnerung an damals überfiel ihn mit einem ziehenden Schmerz in der Herzgegend. Er hatte so lange nicht mehr an Wingarten gedacht, daß ihn seine Reaktion überraschte. Was tat so weh? Die verlorene Jugend? Oder ihre Schrecken, weshalb man eigentlich froh sein mußte, daß sie vergangen war?
Schließlich öffnete er das Kuvert so ungeschickt, daß er es fast zerfetzt hätte. »Was ist denn los, Mann?« murmelte er und zog den Briefbogen aus dem zerrissenen Umschlag. Schweres, wohlanständiges Kanzleipapier. Vorsichtige, umständliche Juristensprache. Der Absender war die Kanzlei Dinges, Lamberti und Zapp – Grabenstr. 35. Wingarten am Rhein.
Er las den Brief zweimal. Man erlaubte sich die höfliche Anfrage, ob sein Weg ihn bald einmal nach Wingarten führe. In diesem Fall bitte man um einen Besuch. Sollte er sich einverstanden erklären, seien zwei Weinberge auf seinen Namen ins Grundbuch einzutragen. »Bischofsberg«, 1,6 Hektar groß. Und »Rosenpfad«, ganze 0,8 Hektar.
Schöne, prächtige Steilhanglagen, dachte Bremer. Wunderbare, große Rieslinge. Er griff zur Espressotasse und hatte plötzlich den Duft und den Geschmack von Wein in Nase und Mund. Er kannte diese Weinberge, er kannte, glaubte er plötzlich, noch immer jeden Zentimeter der steilen Hänge am Berg über dem Fluß, jeden Rebstock, zu jeder Jahreszeit. Er sah die Nebel aus dem Wasser des Rheins aufsteigen, abends, wenn es schon kühl wurde, und morgens, wenn die Sonne noch nicht kräftig genug war, um die feuchte Luft zu erwärmen. Er sah die Farbe des Schieferbodens vor sich, helles Ocker, wenn es trocken war, kräftiges Rostrot, wenn es geregnet hatte. Er erinnerte sich genau, wie sich der Matsch anfühlte, zu dem der Boden in regenreichen Herbstmonaten wurde, er war schließlich oft genug ausgerutscht und auf den Knien gelandet bei der Weinlese. Er hatte in der Nase, wie die Trauben rochen, die frischen, gesunden und die schon leicht angefaulten.
Er hörte, wie die Lesearbeiter leise miteinander sprachen, wie die Legelträger keuchend und schwankend den Berg hinaufstapften und
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