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Wasser zu Wein

Wasser zu Wein

Titel: Wasser zu Wein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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»Traube« bekannt und berühmt war.
    »Gehst du dran?« fragte Karen, als das Telefon klingelte. Paul nahm den Hörer auf, sagte »Ja?« und glaubte für einen Moment, einen obszönen Anruf erwischt zu haben. Jemand atmete schwer am anderen Ende der Leitung, sehr schwer.
    »Paul?« sagte eine gequälte Stimme. »Hast du’s schon gelesen?«
    »Sebastian«, signalisierten seine Lippenbewegungen zu Karen hinüber. Die nickte und ließ die Zeitung wieder sinken.
    »Ich hab das Maximilian zu verdanken«, sagte Sebastian. »Diese kleine, hinterhältige Klapperschlange hat alles Gift versprüht, was sie aufzubieten hat.«
    »›Der Schriftsteller Maximilian von der Lotte bezweifelt, daß ›Die Traube‹ noch eine Adresse ist, zu der man Menschen mit dem verständlichen Wunsch nach guter Küche in gastlicher Umgebung ohne Gewissensbisse hinschicken kann‹«, las Karen halblaut vor. »›Ob Alain Chevaillier wirklich an einem Herzinfarkt gestorben ist, kann nur die Obduktion klären. Das Geschirr jedenfalls ist in der Küche der ›Traube‹ verdächtig schnell von allen verräterischen Spuren gesäubert worden.‹«
    »Lotte würde nie irgendeinen konkreten Verdacht aussprechen. Aber er ›legt nahe‹. Und was er alles nahelegt! Gift, verdorbene Lebensmittel und Mißmanagement.« Sebastian versammelte alles Elend der Welt in seiner Stimme.
    »Auch Gift? Alain?« Paul hatte Mitleid mit Sebastian, auch wenn er nicht ganz verstand, warum der sich in eine galoppierende Panik hineinsteigerte. Ob Alain vergiftet worden war, würde die Autopsie erweisen. Punkt. Bis dahin konnte man eigentlich gelassen sein.
    »›Alain Chevaillier war bekannt für seine kritische Würdigung der Urteile auch enger Kollegen‹«, las Karen vor.
    »Alain soll herausgefunden haben, daß ich unseren Michelin-Stern nur der Intervention meines alten Schulfreundes August M. Panitz zu verdanken hätte – den ich mit riesigen Geldsummen geködert haben soll«, sagte Sebastian mit wegbrechender Stimme.
    »Und deshalb sollst du ihn vergiftet haben?« Was für ein Schmarrn.
    »›Was ist dran am Gerücht, daß der unbestechliche Panitz diese Tugend nicht immer walten ließ?‹«, las Karen vor.
    »Was ist dran?« fragte Paul in den Telefonhörer hinein.
    Sebastian seufzte auf. »Er war uns gewogen. Er ist uns gewogen. Er ist mein Freund, Paul.« Da war wieder diese Verzweiflung in der Stimme, die Paul mit tiefer Ratlosigkeit erfüllte. Sein alter Schulfreund Sebastian Klar, der unbekümmerte, blondhaarige, unendlich selbstbewußte Knabe von damals, war heute ein Nervenbündel. Aus purer Angst um die Existenz?
    »Danke, daß du da bist, Paul«, sagte Sebastian. »Meine Empfehlung an die gnädige Frau.« Dann legte er auf.

11
    Elisabeth fühlte sich wie Mrs. de Winter, die durch Rebeccas Haus ging und das Gefühl nicht los wurde, hier nicht hinzugehören, ja verbotenes Terrain zu betreten. Der Unterschied war nur, daß sie selbst Rebecca gewesen war. Damals, vor unendlich langer Zeit. In einer anderen Welt.
    Sie nahm den Generalschlüssel aus dem Safe und steckte ihn in die Rocktasche. Sie ließ sich nicht nachsagen, daß sie ihren Job vernachlässigte. Aber es war nichts mehr, wie es war. Der Zauber war erloschen.
    Sie ging die breite Treppe hoch in den ersten Stock. Mönch lief mit erhobenem Schwanz vor ihr her. Das alles hatte ihr früher ein Gefühl tiefer Befriedigung gegeben: das alte Haus mit den knarrenden Dielen, mit dem Elchkopf im Foyer, den bunten Bleiglasfenstern im Wintergarten, der Holzdecke im Speisesaal, den alten Bildern und Lampen. Die jahrhundertealte Substanz und das, was Sebastian und sie behutsam hinzugefügt hatten. Die Einrichtung der 22 Zimmer und Suiten war ihre Schöpfung gewesen. Sie war jeden Tag stolz die Strecke abgeschritten, hatte sich gesonnt in der Schönheit des Hauses und der Zufriedenheit der Gäste. Heute konnte sie sich an rein gar nichts mehr freuen.
    Die Nummer 11 war damals ihr Lieblingszimmer gewesen. Oder war es die Nummer 32 gewesen? Sie wußte es nicht mehr. Dabei war kein Zimmer wie das andere, alle unterschieden sich. Teppichboden, Tapeten, Vorhänge vor den Fenstern: Für jedes Zimmer hatte sie etwas Besonderes ausgesucht. Und jedes Zimmer hatte mindestens ein schönes, altes Möbel aufzuweisen – aus den vergangenen Zeiten und Stilepochen, die das Haus bereits erlebt hatte. In dem einen, in diesem hier, stand eine Recamière, in dem Zimmer nebenan eine honigfarbene Biedermeierkommode, zwei Türen weiter

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