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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Lateinkenntnisse einzuimpfen, war es streng verboten, während der Schulzeit schottisch zu sprechen – weder in der Klasse noch auf dem Hof. Durchgesetzt wurde diese Vorschrift mit Hilfe von Spionen, oder «vertraulich-geheimen Konfidenten», die dem Schulmeister jede Verfehlung meldeten. Ersttätern drohte ein scharfer Tadel sowie eine Geldstrafe von zwei Shillings, beim zweitenmal setzte es vor versammelter Klasse Prügel mit der Peitsche. Die Älteren wußten natürlich, wer die Spione waren, und erkauften sich auf diesem oder jenem Wege ihr Schweigen. Von den etwa sieben Petzen in ihrer siebenunddreißigköpfigen Klasse war Robbie Monboddo der zuverlässigste. Also würden sie ihn einfach eine Falschmeldung über den Musterschüler abgeben lassen. Mr.   Tullochgorm,ich muß Ihnen einen Jungen melden, Sir. Den jungen Gleg. Gotteslästerlich geflucht hat er – und noch dazu in breitestem Schottisch, Sir.
     
    Zwei Tage danach wurde Gleg nach vorn gerufen. Im steinernen Kamin schwelte der Torf, das langsame, stetige Tropfen des Schmelzwassers bildete Pfützen auf dem Lehmboden. Früher hatte man hier Milchkühe untergebracht, und in der Luft lag noch das Odeur von Urin und saurer Milch. Ein silbriger Eisüberzug lag auf den Latten der Zimmerwände, die Kerzen der Schüler flackerten fahl im Zwielicht, Nagetiere raschelten oben im Strohdach. «George Peter Gleg», skandierte Tullochgorm, «er trete vor!»
    Die siebenunddreißig Schüler erstarrten an ihren roh gezimmerten Pulten. Aller Augen lagen auf Tullochgorm, als Gleg zaghaft von der Bank aufstand und den Gang nach vorne schritt. Da das Gesicht des Schulmeisters sich nie im Ausdruck veränderte, war seine Stimmung vorerst noch schwer einzuschätzen – war er zornig oder hatte er nur Sodbrennen? Wollte er Gleg schelten oder loben? Da konnte man nur raten – obwohl Adam und Mungo, nebst einigen anderen, es sich ziemlich gut denken konnten.
    Tullochgorms Totem war die neunschwänzige Katze, die als unheilvoller Schmiß an der Wand hinter ihm hing. Er mochte nichts und niemanden. Worte wie Wunder, Schönheit und Leben existierten in seinem Lexikon nicht. Er war verarmt und verbittert, ein einfacher Pauker, abhängig von dem lächerlichen Gehalt, das die Stadt für ihn aufbrachte, und von milden Gaben seiner Schüler.
«Venit summa dies et ineluctabile tempus»,
fauchte er, jede Silbe wütend hinausstoßend, als gäbe er einem Hund einen Tritt.
    Mit gesenktem Kopf stand Gleg vor dem massiven Eichentisch des Schulmeisters. Er antwortete auf latein: «Ich – ich verstehe nicht, Sir.»
    «Was!
Nil conscire sibi, nulla pallescere culpa
, du Lümmel.»
    «Aber   –»
    «Stillgeschwiegen!» Tullochgorm war jetzt auf den Beinen und ließ die übliche Predigt vom Stapel: über Ungehorsam, mangelnde Disziplin und heimtückische Elemente, welche die anerkannten Gesellschaftsnormen umgingen und so das Gefüge des Königreichs schwächten. Als er geendet hatte, packte er Gleg im Nacken und beutelte ihn, bis dem Jungen der Rotz aus der Nase rann. «Zwei Shillings!» brüllte der Schulmeister. «Zwei Shillings!
Quamprimum!
»
    Eine Woche später wurde Gleg zum zweitenmal nach vorn zitiert. Adam grinste Finn und Colin zu, als die Klasse verstummte und der Wind in den Dachritzen heulte. Die Jüngeren erblaßten und krallten sich so fest an die Ränder ihrer Pulte, daß ihre Knöchel ganz weiß wurden. Tullochgorm war aschgrau im Gesicht, Gleg verschüchtert und durcheinander. Mungo sah nur einmal kurz auf, fuhr sich geistesabwesend durchs Haar und wandte sich dann wieder dem zerlesenen Exemplar von Jobsons Afrika-Abenteuern zu, das unter seiner Latein-Grammatik versteckt war.
«Bonis nocet quisquis pepercerit malis!»
schrie Tullochgorm. Und dann: «Er beuge sich über den Tisch, der Taugenichts.»
     
    Adam Park und seine Kumpane hatten ihr Ziel erreicht: Gleg war vom Sockel gekippt. Im Laufe von sieben kurzen Tagen war er vom ersten zum siebenunddreißigsten Schüler herabgesunken. Doch damit hörte es längst nicht auf. Wie sollte es denn auch, wo Gleg doch so deutlich gezeichnet, so offensichtlich erbärmlich war und sich so schön als Zielscheibe anbot, daß er ebensogut einen schwarzen Punkt auf der Stirn tragen konnte? Adam und seine Freunde hatten ihren sprichwörtlichen Prügelknaben gefunden. Je mehr er litt, desto mehr verachteten sie ihn –und desto entschlossener wurden sie, ihn zu vernichten, zu zerstören, zu zerquetschen, so wie sie eine Schnecke oder eine

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