Watersong - Sternenlied (German Edition)
tätowierte Schulter und den tätowierten Rücken.
Derjenige, der die Tätowierungen gemacht hatte, hatte gute Arbeit geleistet. Die Konturen waren dick und schwarz gezeichnet, und erst bei näherem Hinsehen entdeckte Harper, dass die Zweige nicht schattiert worden waren, um ihr verdrehtes, knorriges Aussehen zu bekommen, sondern den Linien mehrerer langer Narben folgten.
Nicht alle Zweige bedeckten Narben, und unter dem langen, dicken Stamm, der an seiner Wirbelsäule verlief, schien gar keine vernarbte Haut zu sein. Doch es waren genug, um zu zeigen, dass er einiges durchgemacht haben musste.
» Und hier auch. « Er drehte den Kopf zur Seite und hob sein Haar. Einen Zentimeter unter dem Haaransatz, tief in seinen strubbeligen Haaren versteckt, verlief eine dicke rosa Narbenwulst.
» Oh mein Gott « , keuchte Harper. » Was ist passiert? «
» Ich war fünfzehn, mein älterer Bruder John war zwanzig. « Daniel setzte sich wieder auf das Bett und schaute aus dem Fenster. » Er war wild und leichtsinnig und stürzte sich einfach Hals über Kopf in alles hinein. Und ich habe es ihm nachgemacht. Zuerst, weil ich dachte, er wäre cool und mutig und tapfer. Doch als ich älter wurde, folgte ich ihm, um ihn aufzufangen. Mein Großvater besaß eine Menge Boote; das hier gehörte früher auch dazu. « Daniel zeigte auf sein Schiff. » Er liebte das Wasser und vertrat die Meinung, dass Kinder sich frei darin bewegen sollten. Deshalb durften wir auch, wann immer wir wollten, mit einem Boot hinausfahren. In der Nacht, als ich mir die hier geholt habe … « , Daniel zeigte auf seine Narben, » war John auf einer Party, und ich hatte ihn begleitet. Er hat sich betrunken, und ich meine, so richtig betrunken. Aber das war nicht ungewöhnlich, weil John eigentlich fast immer betrunken war. Auf der Party waren zwei Mädchen, die er beeindrucken wollte, und er hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er sie dazu mit auf eine Bootstour nehmen müsse. Ich bin mit, weil er so besoffen war, dass er gar nicht mehr steuern konnte. Wenn ich dabei wäre, könnte ich das Steuer übernehmen, dachte ich. Und dann würde alles gut. Also saßen John, die beiden Mädchen und ich in diesem kleinen Schnellboot. « Er seufzte und schüttelte den Kopf. » John ist immer schneller gefahren. Ich habe ihm gesagt, er soll bremsen. Die Mädchen haben gekreischt, und ich habe versucht, ihm das Steuerrad zu entreißen. « Er schluckte. » Wir prallten frontal auf die Klippen am Ende der Bucht. Das Boot ist umgekippt. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, aber ich geriet unter das Boot, und da hat mich die Schiffsschraube erwischt. « Er zeigte wieder auf seine Narben. » John verlor beim Aufprall das Bewusstsein und ich konnte ihn nicht finden … «
» Tut mir leid « , sagte Harper leise.
» Die beiden Mädchen überlebten, aber John … « Daniel schüttelte den Kopf. » Es dauerte eine Woche, bis man seine Leiche fand, drei Kilometer entfernt ans Ufer geschwemmt. Und nein, ich bin nicht glücklich darüber, dass er starb. Ich werde es niemals sein. Ich habe meinen Bruder geliebt. « Nun schaute er Harper mit ernsten Augen an. » Aber nichts, was ich in dieser Nacht getan habe, hat ihn davon abgehalten, sich zu betrinken oder in dieses Boot zu steigen. Mein Betteln, mein Flehen, mein Gerangel mit ihm – nichts davon hat ihn gerettet. Es hat mich nur auch fast umgebracht. «
» So ist Gemma nicht. « Harper senkte den Blick. » Sie macht nur gerade eine schwierige Phase durch und braucht meine Hilfe. «
» Ich sage ja nicht, dass du aufgeben oder sie nicht mehr lieb haben sollst. Das würde ich niemals vorschlagen, schon gar nicht bei Gemma. Sie ist ein echt nettes Mädchen. «
» Wozu erzählst du mir das dann? «
» Es hat Jahre gedauert, bis ich die Tatsache akzeptieren konnte, dass Johns Tod nicht meine Schuld war. « Seine Schultern sackten ein. » Ich weiß nicht, ob ich es mir je ganz verzeihen werde. Aber das heißt nicht, dass du ebenso empfinden solltest. Ich will damit nur sagen, dass du es einem anderen Menschen nicht abnehmen kannst, sein eigenes Leben zu leben. Jeder muss seine eigenen Entscheidungen treffen, und manchmal können wir nichts weiter tun, als lernen, damit zu leben. «
» Hmmm. « Harper atmete tief aus. » Als ich heute hierherkam, hatte ich nicht erwartet, so tiefgründige Lebenshilfe zu bekommen. «
» Entschuldige. « Daniel sah verlegen aus und lachte ein bisschen. » Ich wollte nicht so … düster klingen.
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