Waugh, Evelyn
die Warteliste abgearbeitet haben. Wir werden allmählich eine Gebühr für die Dienstleistung verlangen müssen. Nur so können wir die Nachfrage drosseln.«
»Das Ministerium wird dem doch sicher niemals zustimmen, oder, Sir?«
»Elende Gefühlsduselei. Mein Vater und meine Mutter haben sich im eigenen Hinterhof mit der eigenen Wäscheleine erhängt. Heute rührt niemand mehr einen Finger, um selbst Hand anzulegen. Da ist was faul im System, Plastic. Es gibt doch immer noch Flüsse, in denen man sich ertränken kann, Züge – hin und wieder jedenfalls –, unter die man den Kopf legen kann, Gasöfen in einigen der Baracken. Das Land ist so reich an natürlichen Todesschätzen, aber alle müssen sie zu uns kommen.«
Es war selten, dass er sich so freimütig vor seinen Untergebenen äußerte. Er hatte in der arbeitsfreien Woche zu viel Geld ausgegeben, in seinem Wohnheim mit anderen unbeschäftigten Kollegen zu viel getrunken. Nach einem Streik kehrten die leitenden Beamten immer schlecht gelaunt an die Arbeit zurück.
»Soll ich den ersten Schub reinlassen, Sir?«
»Erst mal noch nicht«, sagte Dr. Beamish. »Wir müssen uns zunächst um einen vordringlichen [381] Fall kümmern, der uns mit einem blauen Brief vom Theater überwiesen wurde. Sie sitzt im privaten Wartezimmer. Führen Sie sie herein.«
Miles suchte den Raum auf, der wichtigen Patienten vorbehalten war. Eine Außenwand war ganz aus Glas. Daran gepresst stand ein Mädchen mit dem Rücken zu ihm und blickte hinaus auf die traurige Schlange unter ihr. Vom Licht geblendet, nahm Miles nur einen Schatten wahr, der sich beim Öffnen der Tür regte und bei aller Schattenhaftigkeit mit vollendeter Anmut zu ihm umdrehte. Der verschwommene Anblick dieser Schönheit verschlug ihm einen Moment lang die Sprache, und er blieb an der Tür stehen. Dann sagte er: »Wir wären jetzt für Sie bereit, Miss.«
Das Mädchen trat näher. Miles’ Augen gewöhnten sich an das Licht. Der Schatten nahm Gestalt an. Die volle Erscheinung war ganz so, wie es der erste Blick hatte erahnen lassen; mehr noch, denn aus jeder kleinsten Bewegung sprach Vollkommenheit. Nur ein Detail verletzte den Kanon reiner Schönheit: ein langer, seidiger, kornblonder Bart.
In einem tiefempfundenen liebreizenden Ton, der in nichts der ausdruckslosen Intonation der Zeit glich, sagte sie: »Damit wir uns recht verstehen: Ich möchte nicht, dass irgendetwas mit mir [382] gemacht wird. Ich habe eingewilligt herzukommen. Der Direktor der Theaterabteilung und der Gesundheitsdirektor nahmen sich die Sache so zu Herzen, dass mir nichts anderes übrigblieb. Ich sagte, ich wäre bereit, mir Ihre Dienstleistung vorstellen zu lassen, aber ich möchte nicht, dass irgendetwas gemacht wird.«
»Das sagen Sie besser ihm da drin«, erwiderte Miles. Er brachte sie in Dr. Beamishs Zimmer.
»Gütiger Staat!«, rief Dr. Beamish. Er hatte nur Augen für den Bart.
»Ja«, sagte sie. »Bestürzend, nicht wahr? Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, aber ich kann verstehen, wie es Leuten geht, die ihn zum ersten Mal sehen.«
»Ist er echt?«
»Ziehen Sie.«
»Er ist kräftig. Kann man gar nichts dagegen tun?«
»Ach, man hat schon alles versucht.«
Dr. Beamish interessierte das Thema so brennend, dass er Miles’ Anwesenheit vergaß. »Eine Klugmann’sche Operation, nehme ich an?«
»Ja.«
»Sie geht in der Tat hin und wieder mal auf diese Weise schief. Es gab zwei oder drei Fälle in Cambridge.«
[383] »Ich wollte es nicht machen lassen. Ich will gar nichts machen lassen. Der Leiter des Balletts ist schuld. Er besteht darauf, dass alle Mädchen sterilisiert werden. Anscheinend kann man nie wieder richtig gut tanzen, wenn man mal ein Kind bekommen hat. Und ich wollte richtig gut tanzen. Das ist jetzt dabei herausgekommen.«
»Ja«, sagte Dr. Beamish. »Ja. Die arbeiten viel zu schlampig. Die Mädchen damals in Cambridge mussten sie auch einschläfern lassen. Es gab kein Mittel dagegen. Na, wir werden uns Ihrer annehmen, junge Frau. Müssen Sie noch irgendwelche Vorkehrungen treffen, oder soll ich Sie gleich drannehmen?«
»Aber ich will nicht eingeschläfert werden. Wie ich Ihrem Assistenten hier schon erklärt habe, habe ich überhaupt bloß deshalb eingewilligt herzukommen, weil der Theaterdirektor so geweint hat, und er ist wirklich ein Schatz. Ich denke nicht im Traum daran, mich von Ihnen töten zu lassen.«
Während sie das sagte, gefror Dr. Beamishs freundliche Miene. Er musterte sie
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