Weinrache
musste ihren Mann nicht unbedingt sehen und konnte sich den Zweitschlüssel aus dem Büro holen. Arthur würde sich daran nicht stören. Er hatte ohnehin nicht verstanden, wieso sie keinen Schlüssel behalten wollte. Immerhin waren sie noch verheiratet, lebten erst seit einem Vierteljahr getrennt. Vermutlich hatte er es ihr sogar übel genommen, dass sie freiwillig auf die Schlüsselgewalt verzichtete. Wie so vieles andere wollte er ihre Beweggründe auch in diesem Fall nicht wahrhaben. Norma betrachtete die Ehe mit Arthur als ein abgeschlossenes Kapitel ihres Lebens.
Sie stellte den Wagen auf dem Kundenparkplatz ab und ging durch den Torbogen zurück zur Taunusstraße und die wenigen Schritte weiter zum Haupteingang. Arthurs Geschäft war nicht nur eines von vielen in der langen Reihe der Wiesbadener Antiquitätengeschäfte, sondern eines der renommiertesten. Die Zeiten waren schwer für die Branche, aber ein Unternehmen wie ›Tanns Antik und Kunst‹ kam nach wie vor gut über die Runden. Als studierter Kunsthistoriker lebte Arthur für seinen Beruf, und diese Leidenschaft vermittelte er seinen Kunden aus Wiesbaden und den nahe gelegenen Taunusstädten Kronberg, Bad Homburg und Königstein. Dort schien es ein unerschöpfliches Reservoir betuchter Bankiersgattinen, Erben und Unternehmerfamilien zu geben, die ihre neu gebaute oder renovierte Villa mit sündhaft teuren Antiquitäten ausstatten wollten. Neben seinen persönlichen Fähigkeiten konnte Arthur mit einem hervorragenden Partner überzeugen: Josef Brunner, ein pragmatischer bayrischer Hüne, Möbeltischler und Restaurator, verstand sein Handwerk und bewältigte mit stoischem Gleichmut die anspruchsvollsten Kundenwünsche. Josef arbeitete gewöhnlich in der Werkstatt, die drei Minuten entfernt in einem Hinterhaus in der Nerostraße lag, übernahm aber oftmals den Laden, wenn Arthur sich auf Kundenbesuch befand.
Norma stieg die beiden Stufen hinauf und drückte die Ladentür auf. Die englische Glocke, ein Mitbringsel einer gemeinsamen Urlaubsreise, bimmelte hell und fröhlich. Arthur hatte den Eingangsbereich umdekoriert, wie sie mit einem flüchtigen Blick erfasste. Die schlichte Eleganz des Art déco war zurzeit offenbar gefragter als Biedermeier und Historismus. Dazwischen ein Freischwingersessel: aus stumpfem Stahlrohr der Rahmen, die Sitzfläche mit blutrotem Gewebe bespannt. Ein Bauhaus-Möbel. Von Marcel Breuer womöglich? Auf jeden Fall könnte der Sessel wunderbar in Bruno Taschenmachers neues Restaurant passen. Verkauft stand in roten Buchstaben quer über dem Preisschild. Vielleicht hatte Bruno schon zugegriffen? Arthurs engster Freund seit der Schulzeit steckte seit Wochen mitten in den Planungen für ein exklusives Restaurant, das er in einer vom Bauhaus-Architekten Marcel Breuer geplanten Wiesbadener Villa einrichten wollte.
Die Entdeckung oder besser gesagt, Wiederentdeckung der Bauhaus-Villa war eine kleine Wiesbadener Sensation. Dem Architekten Moritz Fischer verdankte die Stadt, dass sie seit Kurzem mit dieser weiteren städtebaulichen Kostbarkeit aufwarten konnte. Die ›Villa Stella‹ reihte sich damit in eine bemerkenswerte Auswahl von Villen und Wohnhäusern des 20. Jahrhunderts, mit denen Wiesbaden glänzen konnte. Die ›Villa Stella‹ stammte aus den 30er-Jahren. In ihrer Bedeutung vergessen und von Anbauten verschandelt, rottete sie vor sich hin, bis sich sieben Jahrzehnte später Moritz Fischer der verwahrlosten Schönheit annahm. Er sammelte Gelder und mobilisierte Sponsoren, unter denen sich seine Jugendfreunde Arthur und Bruno als Wortführer hervortaten, und verwandelte die Ruine zu einem Schmuckstück. Bis es soweit war, vergingen Jahre. Ein langwieriger Prozess. Baumängel brachten die Sanierungen immer wieder ins Stocken. Zusätzlich sorgte die Diskrepanz zwischen Fischers Ideen und den Vorstellungen der Denkmalschützer für unvorhersehbare Verzögerungen.
Nun, zum Ende des Sommers, war das Gebäude bezugsfertig. Erblüht in einer nüchternen Ästhetik, die Norma eigenartig berührte. Die Stadt und Fachwelt huldigten Moritz Fischer als Experten, der das Geheimnis der Villa oberhalb der Sonnenberger Straße aufdecken konnte.
Fischer sonnte sich in der Anerkennung und ließ sich als Retter eines Baudenkmals feiern. Nach Normas Geschmack gewann er dadurch nicht an Sympathie. Moritz Fischer war und blieb ein Großmaul und Aufschneider. Arthur machte mit ihm gemeinsam beste Geschäfte, und Bruno Taschenmacher durfte dieses
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