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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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pflegen hat oder in dichtem Nebel durch dicke Erdschollen pflügt, bleibt niemals im Ungewissen ob der richtigen Uhrzeit, die ihm der Kirchturm von Cothersley verkündet.
    Doch des einen Stolz ist des anderen Qual, und einige Jahre zuvor, nach einer Petition von Zugezogenen, die unter leichtem Schlaf litten und die ortsansässige Opposition mit fünf zu eins überstimmten, waren die Viertelstundenschläge in der Zeit zwischen zehn Uhr abends und sieben Uhr morgens zum Schweigen gebracht worden. Die Gegner hätten nur allzu gern auch die Stundenschläge abgestellt, doch David Upshott (es war die erste große Prüfung in seinem Amt), der den Kompromiss angeboten hatte, meinte, jeder, der nicht innerhalb einer Stunde einschlafe, sollte seinen Arzt oder sein Gewissen konsultieren.
    Dolly Upshot war zur Überraschung der Stammgäste, die es nicht gewohnt waren, sie so spät noch und allein anzutreffen, um zehn ins Pub gekommen, hatte sich einen großen Wodka mit Tonic bestellt, in eine Ecke gesetzt und sich an ihrem Handy und Getränk festgehalten. Höflich, aber bestimmt hatte sie jeglichen Konversationsversuch zurückgewiesen und keinerlei Wunsch nach Gesellschaft gezeigt. Die Stammgäste hatten daher ihre Aufmerksamkeit wieder auf den zwar weniger erbaulichen, aber umso unterhaltsameren Anblick von Sue-Lynn Maciver gerichtet, die nur allzu bereit war, die Schmerzen ihrer frischen Witwenschaft mit jedem zu teilen, der ihr einen Drink spendierte.
    Dolly war die Letzte, die das Pub verließ.
    »Alles in Ordnung, Miss Upshott?«, fragte der Captain in wohlwollender Stimmung, nachdem ihm bewusst geworden war, dass die Anwesenheit einer trauernden Witwe keineswegs die Gäste vergrault, sondern seinen Umsatz merklich gefördert hatte.
    »Ja, danke. Wunderbar«, sagte Dolly und sah über die Grünfläche zur Silhouette der Kirche, die sich schwarz vor dem herrlichen sternenübersäten Himmel abhob.
    Die Kirche, die dem Himmel im Weg stand. Eine Vorstellung, die ihr gefiel.
    Aber die Sterne waren für sie nicht zu erreichen, und in schweren Zeiten wenden wir uns, so wir auf der Suche nach Trost, dem zu, was am bereitwilligsten zur Hand ist.
    Als sich die Pubtür hinter ihr schloss, ging sie über den Rasen und betrat den Weg, der zur Kirche führte.
     
    Auch das Moscow House ragte dunkel vor dem Himmel auf, als Kay Kafka über die Anfahrt ging. Sie erinnerte sich, wie sie zwei Nächte zuvor denselben Weg genommen hatte. Sie hatte keine Angst gehabt, und auch jetzt hatte sie keine. Angst hatte sie vor langer Zeit zur Genüge erlebt, damals, als sie mit Emilys Gedicht im Kopf durch die Kindertagesstätte geeilt war. Und dann, zwei Tage später, als sie vor der regungslosen Hülle ihrer Tochter stand, die so unglaublich zerbrechlich wirkte, als wäre es ganz und gar unmöglich, dass diese winzigen Gliedmaßen jemals voller Leben gewesen waren – damals waren bei ihr jene Nervenbahnen ausgebrannt, die für die Übermittlung von Angst zuständig sind.
    Nur zu ganz seltenen Anlässen hatte sich in ihnen wieder ein Funke geregt. Einmal, als es nach dem Tod ihres ersten Mannes denkbar schien, dass man ihr Helen wegnehmen könnte. Ein zweites Mal, als Helen ihr schüchtern und gleichzeitig so hoffnungsfroh anvertraute, dass sie unsterblich in Jason Dunn verliebt sei. Und dann wieder hier im Moscow House, als bei Helen die Wehen einsetzten. Doch herkömmliche Schrecken wie diese, die bei einem nächtlichen Besuch in einem Haus zu erwarten waren, das gewisse Erinnerungen für sie barg, hatten keine Macht über sie.
    Diesmal war die Eingangstür abgesperrt, aber sie besaß Helens Schlüssel; den Schlüssel, auf den Helen bestanden hatte, als das Haus zum Verkauf angeboten wurde. Und diesmal musste sie sich nicht darauf verlassen, dass sie irgendwo einen Kerzenstumpen und Streichhölzer fand. Vorausschauend hatte sie eine Taschenlampe dabei.
    Deren dünner Strahl führte sie die Treppe hinauf an die Tür des Arbeitszimmers. Sie drehte den Knauf und drückte dagegen. Die Tür schwang auf, und ohne eine Sekunde zu zögern, trat sie in den Raum, in dem ihr Ehemann und ihr Stiefsohn gestorben waren.
    Nun aber registrierte ihr Verstand etwas, allerdings keine Angst, sondern Überraschung, hervorgerufen durch die Leere im Raum. Sie ließ den Lichtstrahl hin und her schweifen. Alles war ausgeräumt worden. Die Möbel, das Bild, sogar die Bücher. Wie gründlich. Andy hatte ihr gesagt, DCI Pascoe sei jemand, der sehr akribisch vorgehe, doch

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