Wellenzauber
Mann um die dreißig kam. Er stieg in seinen schwarzen Alfa Romeo und fuhr mit aufheulendem Motor davon. Eine halbe Stunde zuvor hatte eben dieser Mann die Wohnung von Lorella Ward betreten, die sich im Parterre rechts befand. Das hatte Kerstin nach einem Blick auf die Klingelschilder herausgefunden. Sie war ziemlich stolz auf ihr detektivisches Talent. Der Mann hatte ein paar Fenster geöffnet und sich eine Weile in der Küche aufgehalten, was Kerstin aus der Tatsache schloss, dass er kurz darauf mit einer Espressotasse in der Hand auf den vorderen Balkon trat. Sie schoss fleißig Fotos.
Nun war er wieder weg.
»Ein Einbrecher war das nicht«, sagte Florian.
»Nee. Der hatte ja einen Schlüssel. Und wie eine Putzfrau sah er auch nicht aus.« Kerstin kicherte. Ihr gefiel dieses Abenteuer, besonders mit Florian an ihrer Seite. »Ich tippe auf neuen Freund.«
»Und was machen wir jetzt?«, fragte er.
»Wir treffen uns mit Martha und zeigen ihr die Fotos. Vielleicht kennt sie den Kerl. Und dann überlegen wir uns die nächsten Schritte. Eins ist jedenfalls klar: Lorella handelt nicht aus Liebe zu Federico.«
Ihr Handy klingelte in der Sekunde, als sie Martha anrufen wollte.
»Kannst du Gedanken lesen?«, fragte sie, nachdem sie die Anruferin erkannt hatte. »Ich wollte dich gerade …«
»Fahr sofort ins Krankenhaus!«, rief Martha. »Sina hatte einen Unfall.«
Kerstin wurde kreideweiß. »O Gott.«
»Was ist los?«, fragte Florian. Aber er wartete auf keine Antwort, nahm ihr das Handy ab und ließ sich von Martha den Weg zum Krankenhaus erklären, während er den Wagen startete. Zwei Minuten später bahnte er sich hupend den Weg durch Olbia.
»Alles in bester Ordnung«, sagte Federico nach einer langen, gründlichen Untersuchung und richtete sich auf. »Das hast du wirklich gut gemacht, Claudia.«
»Ich hatte ja auch eine wunderbare Hilfe.«
Zweifelnd sah Federico zu dem blassen Robert und zu der jungen Anna, die gerade wieder zu sich kam. »Na, ich weiß ja nicht.«
»Doch nicht die beiden.« Claudia lächelte entspannt. »Die deutsche Hebamme hat mir geholfen. Wo ist sie eigentlich? Sie war doch vorhin noch da.«
»Vielleicht ruht sie sich nebenan aus«, mutmaßte Robert. »So etwas erlebt sie bestimmt auch nicht alle Tage.«
»Eine deutsche Hebamme?«, fragte Federico. »Redet ihr von Martha?«
»Nein«, sagte Robert an Stelle seiner Frau. »Es ist eine junge Frau, die ich zufällig am Strand getroffen habe.«
Die eben noch so ruhig daliegende Yacht schien plötzlich wild zu schaukeln, und Federico musste gegen einen schwarzen Abgrund ankämpfen, der sich vor ihm auftat.
»Wie … heißt sie?«
Claudia und Robert Köppen tauschten einen ratlosen Blick. »Keine Ahnung«, sagte Robert dann. »Ich glaube, sie hat ihren Namen nicht genannt, oder ich habe nicht darauf geachtet. Ich war ja ziemlich aufgeregt.«
Der Abgrund wurde größer, schwärzer.
Sina! hallte es in Federicos Kopf wider. Es ist Sina! Ich habe mich nicht getäuscht. Neulich vor meiner Praxis und der Abend am Hafen. Sie ist hier. Auf Sardinien. Ganz in meiner Nähe.
Er hätte Claudias nächste Worte zur Bestätigung gar nicht mehr gebraucht: »Sie hat sehr jung auf mich gewirkt. So zierlich und klein. Aber ich habe gemerkt, dass der äußere Eindruck täuscht. Von ihrem Job versteht sie etwas.«
Federico nickte. Es konnte sich nur um Sina handeln. Ohne es zu merken, knackte er laut mit den Fingerknöcheln, eine Unart, die er sich vor Jahren abgewöhnt hatte. Noch vor einer halben Stunde vielleicht hatte sich Sina hier auf dieser Yacht befunden. So nah – und doch wieder unerreichbar.
Und nun konnte die Begegnung, vor der er sich seit zehn Jahren fürchtete, nach der er sich nach zehn Jahren sehnte, in den nächsten paar Sekunden stattfinden. Er fragte sich, ob Sina wegen ihm nach Sardinien gekommen war oder ob es sich um einen Zufall handelte. Nein, entschied er. Es musste einen Grund geben. Aber welchen? Wollte sie ihn nach all der Zeit zur Rede stellen? Oder wollte sie … nein, Federico wagte es nicht, weiterzudenken. Es gab keine Wunder im Leben. Nicht in seinem.
»Wann ist sie eigentlich rausgegangen?«, fragte Robert seine Frau.
Claudia, die ihren neugeborenen Sohn gerade zum ersten Mal an die Brust legte, antwortete nicht gleich. Ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Nach geraumer Zeit zog sie nachdenklich die Stirn zusammen. »Das war genau in dem Moment, als Federico angekommen ist. Anna, geh doch mal in
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