Wenn du mich brauchst
aus.
»Ins – was?«, fragte ich erschrocken.
Mein Vater sank auf einen unserer Esstischstühle mit den hohen, senkrechten Lehnen und fuhr sich durch das Gesicht. »Er – er braucht nun doch eine Knochenmarkstransplantation«, erklärte er leise und mit rauer Stimme. »Schon gleich nach seiner Geburt haben die Ärzte davon gesprochen, aber dann schaffte er es – Baruch Haschem – auch so.«
Der Blick meines Vaters wanderte zu einer Kinderzeichnung von Jonathan, die in einem Rahmen über dem Esstisch an der Wand hing. Es war das typische Kinderbild: ein hoher blauer Himmel, eine strahlende Filzstiftsonne, ein Baum, ein Vogel, ein Haus und daneben, ziemlich schief und krumm und teilweise nicht eben schmeichelhaft, wir alle. Die ganze Familie Greenberg. Shalom hatte Jonathan in seiner Kinderschrift daruntergeschrieben.
Meinem Vater liefen plötzlich Tränen über das Gesicht und er wischte sie nicht fort. Beklommen setzte ich mich neben ihn.
»Diesmal sieht es leider anders aus, Hannah.«
Mein Vater starrte jetzt auf die Tischplatte, diverse Kratzer von Jonathans diversen Spielsachen im Lack. – Überall stumme Zeugen von Jonathans Dasein, die jetzt, wo er nicht da war, ins Auge stachen.
»Seinem Blut fehlen bestimmte Enzyme und durch diesen Mangel verkümmern seine inneren Organe. Er braucht dringend neues Knochenmark. Dann wird er sich – hoffentlich – erholen. Es ist seine einzige Chance, sagen die Ärzte.«
Die Stimme meines Vaters war immer leiser geworden und zum Schluss kaum mehr als ein Flüstern. So hatte ich ihn noch nie erlebt.
In diesem Moment kam meine Urgroßmutter zur Tür herein. »Was ist los? Wie geht es dem Bub? Gibt es Neuigkeiten?«, fragte sie erschrocken.
Mein Vater wiederholte mit tonloser Stimme alles Gesagte.
»Nu, dann werden wir das machen. Knochenmark spenden«, sagte Esther trocken. »Einer von uns wird schon passen, meinst du nicht, mein Moshe? Lass den Kopf nicht hängen.«
Sie schenkte sich ein Glas Wermut ein und setzte sich in ihren Schaukelstuhl. »Der Holocaust-Heinrich will aufhören. Er fühlt sich müde. Er hat es mir gerade geschrieben. Gut, er ist neunzig, ein hohes Alter, da kann er gehen …« Sie schaute meinen Vater sanft an. »Aber unser Jonathan ist ein wackeres Kerlchen. Er wird es schaffen. Ich bin mir sicher, Moshe.«
Wieder versank sie ins Grübeln und auch mein Vater und ich saßen still da und hingen unseren Gedanken nach.
»Der Holocaust-Heinrich, diese unverbesserliche Nervensäge, will, dass ich sein Erbe antrete und den Auschwitz-Kram für ihn weitermache«, murmelte Esther schließlich in diese lastende Stille hinein. Und plötzlich sprach sie darüber, sie, die nie über die Vergangenheit auch nur ein Wort verlor. »Ich denke, ich werde es vielleicht tun. Ich erinnere mich noch genau an alles. Viel zu genau. Der Bunker eins, der Bunker zwei, die Todesmärsche im Januar 1945, die vielen sterbenden Zigeunerkinder, die Juden aus Ungarn, die sogenannte Rampe, wo sie Kranke und Alte und – Schwangere aussonderten … Man wird sehen. Ich weiß nicht, ob ich’s aushalten werde. Aber das ist ja jetzt ganz nebensächlich. Viel wichtiger ist der Bub! – Wann, Moshe, wann werden wir unser Blut für Jonathan untersuchen lassen? Besteht Eile?«
Es bestand Eile und zwei Tage später war es so weit. Wir alle, außer Esther, der es die Ärzte wegen ihres hohen Alters untersagten, versammelten uns erst um Jonathans Bett und anschließend im Labor des Klinikums, um unser Blut typisieren zu lassen.
Jonathan war wach, als wir kamen. Meine Mutter saß neben ihm und ließ das Buch, aus dem sie ihm vorgelesen hatte, sinken.
»Ausgerechnet in Disneyland«, murmelte Jonathan zusammenhanglos, als er uns sah. Sein Gesicht wirkte wächsern und seine Augen lagen in tiefen Höhlen. Unsere Mutter gab sich Mühe, nicht zu weinen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Augen waren geschwollen und rot.
»Abba, was soll ich noch mal kriegen?«, fragte mein kleiner Bruder und rutschte unruhig unter der sterilen weißen Bettdecke hin und her. Mein Vater erklärte es ihm.
»Und von wem kriege ich das? Und tut es weh?«, flüsterte Jonathan besorgt.
»Nein, du wirst schlafen und es wird kein bisschen wehtun«, versprach meine Mutter sanft.
»Und es wird der spenden, der am besten passt«, sagte mein Vater und gab seiner Stimme einen festen Klang. »Es ist wie bei einem Puzzle, verstehst du? Man sucht das Teil, das perfekt in die Lücke passt. Du kennst doch das Gefühl, wenn
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