Wenn Eltern es zu gut meinen
sind, sämtliche Ziele zu erreichen, die sie sich gesteckt haben, und freudig für ihre alternden Eltern sorgen. Diese fiktiven erwachsenen Kinder sind das Ergebnis der guten Erziehung, die sie genossen haben. Nach all den Opfern der Eltern - so die Fiktion - werden die Kinder dankbar und großzügig sein. »Ich bin okay, du bist okay«-Eltern
idealisieren nicht nur ihre Kinder, sondern auch die elterliche Liebe.
Selbstverständlich ist es vollkommen normal, ein kleines Kind zu idealisieren. Eltern sind fast dazu gezwungen, ein Neugeborenes zu idealisieren, weil Säuglinge so viel Zeit, Energie und Aufwand in Anspruch nehmen, dass die menschliche Rasse aussterben würde, wenn wir sie realistisch betrachten würden. Aber damit Kinder und Eltern funktionierende und gesunde Beziehungen entwickeln können (in denen Eltern die Führung haben und ihren Kindern helfen, Mitglieder der Familie und Gesellschaft zu werden), sollte die Idealisierung eines Babys spätestens nach den ersten sechs Monaten allmählich nachlassen. 5 Ersetzt die Idealisierung stattdessen mit der Zeit die Liebe, verstricken oder identifizieren sich die Eltern mit dem Kind.
Idealisierung ist der auf das geliebte Wesen ausge übte Druck oder die Forderung, der vollkommene Andere zu sein: ein Ebenbild von uns selbst oder ein Abbild dessen, was uns vollständig machen würde. Wenn die Idealisierung zu lange anhält, wird das besondere Selbst des Kindes zur besonderen Rettung der Eltern. Die Eltern müssen das Bild des Kindes um jeden Preis schützen. Leiten Eltern jede Kritik immer mit einem Kompliment ein (zum Beispiel: »Sam ist so ein kluger Junge; deshalb passt er in der Schule nicht auf, er langweilt sich einfach«), kann ich daran sehen, dass das Kind als Rettung für den Selbstwert der Eltern herhalten muss. Man sollte sich über das eigene Kind ohne Umschweife beklagen können, denn ein Kind sorgt für viele Probleme, während es uns gleichzeitig auch Freude macht.
Manchmal wird die Idealisierung zur Norm, und Eltern hören ganz auf, kritisch über ihr Kind zu sprechen und vielleicht sogar von ihm zu denken. Aber Kinder wissen, dass sie sowohl gut als auch schlecht sind. Sie geraten aus dem Gleichgewicht, wenn ein Erwachsener etwas anderes zu denken scheint, auch wenn sie den Machtvorteil wahrnehmen und ihn vielleicht nicht aufgeben wollen. Kinder wie Erin und Adrienne empfinden oft einen - vielleicht nur unterschwelligen - Druck, ihren »Prachtkind«-Status zu schützen, aber später werden sie in der Selbstwertfalle landen und illusionäre Ideale und Vorstellungen verfolgen.
Um Prachtkinder zu haben, brauchen Familien Sündenböcke - andere Geschwister, ein Elternteil, eine Stiefmutter, einen Stiefvater. Jemand muss gehasst, abgewertet oder verunglimpft werden, damit ein anderer aufgewertet werden kann. Die negativen Gefühle ge genüber dem Prachtkind werden auf jemand anderen in der Familie oder auf einen Menschen, der der Familie nahesteht, verschoben. 6
Auf diese Weise vor der rauen Wirklichkeit geschützt, ist ein Prachtkind verwirrt oder entsetzt, wenn es in die Welt hinausgeht. Prachtkinder wissen sehr gut, wie sie anderen attraktiv erscheinen können, und sie haben den Anspruch, sich im Lob, der Bewunderung, Aufmerksamkeit und Anerkennung anderer zu sonnen. Bleibt dies aus, gerät das Prachtkind in die Verwirrung und Angst der Selbstwertfalle. Auch wenn es sich vielleicht nicht offen so verhält, als hätte es ein besonderes Selbst, ist der Druck, perfekt zu sein, unter der Oberfläche immer da.
Wie Madeleine Levine in ihrem 2006 erschienenen
Buch The Price of Privilege berichtet, sind die vor pubertären und pubertären Kinder aus wohlhabenden Familien mit einem Jahreseinkommen von 120 000 Dol lar und mehr Amerikas neue Risikogruppe für einen hohen Grad an emotionalen Störungen (besonders Angst und Depression). Ihre Anfälligkeit widerspricht unseren Stereotypen. Das sind keine Familien, in denen Kinder vernachlässigt werden, sondern in denen sich Eltern übermäßig engagieren. Viele dieser Helikopteroder Rollentausch-Eltern haben eine idealisierte Verstrickung mit ihren Kindern und wünschen sich unbewusst ein Kind, das die elterliche Fantasie von Per fektion oder Ruhm erfüllt. Aktuellen Studien zufolge entwickeln 30 bis 40 Prozent der 12- bis 18-Jährigen aus wohlhabenden Elternhäusern beunruhigende psychische Symptome. 7 Diese Statistiken belegen die Verwechslung von Liebe und Idealisierung bei vielen »Ich bin okay, du
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