Wenn Gottes Kinder schweigen - Livermore, C: Wenn Gottes Kinder schweigen - Hope Endures
Gedanke ihre Überzeugungen unterminierte, wehrte sie ihn als eine Versuchung ab. Gott wollte entweder, dass etwas eintrat, oder ließ zu, dass es eintrat, und die göttliche Autorität erreichte dann über die religiöse Befehlskette die Vorgesetzte, deren »Wille« zu Gottes Wille wurde - selbst wenn der Führungsstil der Vorgesetzten barsch und diese uninformiert oder willentlich ignorant war. Mutter führte aus, dass Pontius Pilatus nur deshalb Autorität über Jesus hatte, weil Gott sie ihm erteilt hatte und Gottes Erlösungsplan sich erfüllte, obwohl Christus gekreuzigt wurde. Deshalb erlaube das Leiden »unter dem Gehorsam« einer Schwester teilzuhaben an der Passion Christi, und deshalb könnten Vorgesetzte sich auch nach Gutdünken gegenüber ihren Untergebenen verhalten.
In Hongkong hatte man mich zur Schatzmeisterin ernannt und mir die Aufgabe übertragen, die Buchführung zu erledigen. Schwester Dolores wollte eine große Geldsumme einer Bengalin der Mittelschicht geben, die einst
im Waisenhaus von Kalkutta gelebt hatte, begründete jedoch nicht, warum ein solches Geschenk nötig war. Sie fragte mich nach meiner Meinung, da ich von diesem Geschenk Kenntnis haben musste, wenn ich Bilanz zog. Ich sagte, ich hielte es nicht für angemessen. Kurz darauf versetzte Mutter mich nach Bourke in Australien.
Später erfuhr ich, dass eine andere Professe die Gesellschaft in Bourke verlassen hatte und man mich als ihren Ersatz dorthin schickte, sodass meine Differenzen mit Schwester Dolores und meine Versetzung vielleicht in gar keinem Zusammenhang standen. Ich bekam jedoch nie eine Erklärung dafür. Ich hatte etwa sechs Monate in Hongkong gelebt.
Die Tatsache, ständig neue Sprachen lernen und sich den verschiedenen Kulturen und Aufgabengebieten anpassen zu müssen, erschwerte es einem, mit den willkürlichen Versetzungen zurechtzukommen. Wir Schwestern durften uns nicht selbst informieren oder die Bewilligung unserer Visa einholen, wie das bei erwachsenen Reisenden normal wäre. Man teilte uns mit, wann unsere Abreise sein sollte, und das war es. Man schickte uns mit einem Touristenvisum los, obwohl die Verantwortlichen wussten, dass wir ein Aufenthaltsvisum benötigten. Gott und der Bischof sollten dann am anderen Ende die Fäden ziehen, um alles zu legalisieren. So waren wir beispielsweise mit einem Touristenvisum nach Hongkong gekommen und hatten deshalb große Schwierigkeiten, einen Personalausweis und das richtige Visum zu erhalten, um hier arbeiten zu dürfen, weil diese Formalitäten vor unserer Ankunft hätten erledigt werden müssen. Sobald es bewilligt war, reiste ich schon wieder
ab, und der ganze Prozess begann nun für eine andere Schwester von vorn.
In weniger als zehn Jahren hatte ich in fünf Ländern gelebt und mir die Grundlagen von zwölf Sprachen angeeignet. Und plötzlich war ich wieder unterwegs.
Ich war es leid, den seelischen Missbrauch spirituell zu verklären.
10
Bourke oder Fernab von allem
»Die Nacht ist schwarz, schwarz wie ein Stein. Lass nicht die Stunden im Dunkeln vergehen. Entzünde die Lampe der Liebe mit deinem Sein.«
Tagore, Gitanjali XXVII
Die Arbeit im Tahanan von Manila und im Magdaragat hatte mir das Leben erträglich gemacht und mir einen Sinn gegeben. So gern ich die praktische Arbeit dort geleistet hatte, so groß waren meine Schwierigkeiten gewesen, mit den anderen über meine Überzeugungen zu sprechen oder auch nur Religionsunterricht zu erteilen. Ich wusste nicht, welche Aufgaben mich in Australien erwarteten, ging aber davon aus, dass es für mich schwer werden würde, dort eine Missionarin der Nächstenliebe zu bleiben. Für mich war nun ein Punkt erreicht, wo ich einen täglichen Kampf um meinen Verbleib in der Gemeinschaft führte, und oftmals wollte ich ausbrechen. Aber ich hätte es als nicht richtig empfunden, meine vor Gott abgelegten Gelübde zu brechen, also gehorchte ich weiterhin meinen Befehlen.
Weil meine Versetzung so plötzlich kam, wusste meine Familie nichts von meiner Ankunft. Als ich endlich zu Hause war, ließ ich resigniert meinen Blick über die wartende
Menge am Flughafen von Sydney schweifen, wohl wissend, dass keiner da wäre, um mich abzuholen. Im Pendelbus vom Flughafen konnte ich nicht in die angenehme Anonymität der Einheimischen schlüpfen. Man starrte mich in meinem Geschirrtuchgewand an wie eine Ausländerin. Nach dem Gewimmel der Marktstraßen von Kowloon empfand ich Sydney als so leer, dass ich glaubte, in der
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