Wer den Himmel berührt
Noch nicht einmal heute, als er auf Susie losgegangen ist. Du hast ihn nicht ein einziges Mal zurückgehalten.«
Sylvia fing an zu weinen.
Dan wandte sich an Sam. »Sie hat direkt nach dem Mittagessen angefangen zu schreien, und ich habe mir gedacht, das lasse ich ihn nicht noch einmal tun. Das lasse ich einfach nicht zu. Letzte Nacht habe ich sie die ganze Nacht weinen hören, und sie hat geschrien: ›Laß das, um Gottes willen, laß das sein.‹ Ich bin in die Scheune gegangen, um dort zu schlafen, aber ich habe derart gezittert, daß ich nicht schlafen konnte, und ich habe mir gelobt, daß ich das nicht noch einmal vorkommen lasse. Und als ich sie dann schreien hörte, habe ich die Schrotflinte von der Wand genommen und die Schlafzimmertür aufgemacht und gesehen, daß es nicht Mama war, die er mit einem Gürtel geschlagen hat, sondern Susie.«
Susie war gerade erst sechs.
»Mir ist vollkommen egal, was sie mit mir machen werden, aber ich habe ihn erschossen, und ich bin froh darüber.«
Sylvia begann jetzt unbeherrscht zu schluchzen. »Ich bin auch froh darüber.« Dann sagte sie zu Sam: »Man wird ihn doch nicht ins Gefängnis schicken, oder? Er ist noch keine sechzehn. Man wird ihn doch nicht ins Gefängnis schicken, oder?«
»Nicht, wenn ich etwas dagegen tun kann«, sagte Sam. »Aber ich glaube, mein Junge, wir sollten diese Geschichte besser noch einmal von Anfang an durchgehen. Laß uns sagen, daß dein Vater die Waffe gereinigt hat. Wenn Sie sämtliche Kinder dazu bringen, daß sie das beschwören, dann ist es der Polizei völlig unmöglich, das Gegenteil zu beweisen. Die Polizei wird noch nicht einmal beweisen wollen, daß diese Aussagen nicht stimmen. Wenn wir in die Stadt zurückkommen, werde ich der Polizei berichten, daß er sich beim Reinigen seiner Waffe selbst erschossen hat. So was kommt laufend vor. Ich hole einen Leichensack, und wir nehmen ihn mit, und vielleicht wird gar niemand rauskommen und weitere Fragen stellen.« Er sah Cassie an. »Bist du damit einverstanden?«
»Selbstverständlich.« Sam, du bist einfach wunderbar, dachte sie liebevoll.
»Die können einen Jungen doch nicht ins Gefängnis stecken, oder?« fragte Sylvia noch einmal. »Ich brauche seine Hilfe hier. Er ist der einzige Mann, den ich jetzt noch habe.«
Er war kein Mann, dachte Cassie. Wirklich nur ein Junge. Er war ein Junge, der diese Narben für alle Zeiten mit sich tragen würde, und zwar nicht nur die Narben auf seinem Rücken. Sam holte den Leichensack, und sie zogen den Reißverschluß um Ambrose Pulham zu.
»Wollen Sie, daß ich jemanden rausschicke, der ein paar Tage bei Ihnen bleibt?« fragte Cassie.
Sylvia schüttelte den Kopf. »Nein, wir brauchen niemanden.«
Sam nahm Cassie zur Seite. »Willst du über Nacht bleiben oder lieber zurückfliegen? Vergiß nicht, daß wir auf dem Flugplatz jetzt Beleuchtung haben.«
»Lassen wir ihnen ihre Ruhe.«
Sam hob die Überreste des Mannes in das Flugzeug. Es war dunkel. Sterne funkelten an dem samtigen Himmel.
»Ist es kalt, oder bin ich das?«
»Es ist ziemlich kühl«, antwortete er. Er wollte gerade ins Flugzeug steigen, schaute sich aber noch einmal um und sah, daß sie dastand und zum Himmel aufblickte. Daraufhin kam er zurück.
Zu ihrem Erstaunen hörte Cassie sich weinen, leise, kleine Schluchzlaute. Sam legte seine Arme um sie und zog sie fest an seine Brust. »Was soll jetzt bloß aus ihnen werden?« Sam roch gut.
»Vielleicht fangen sie jetzt erst richtig an zu leben«, schlug er vor, zog ein Taschentuch aus seiner Tasche und reichte es ihr.
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Teil IV
1948–1950
46
1 948 entband Cassie vier der Martin-Töchter von Söhnen. Gemeinsam mit den beiden Töchtern, die sie im vergangenen Jahr bekommen hatten, machte das sämtliche Martin-Töchter zu Müttern.
Die Dürre war jetzt in ihrem vierten Jahr angelangt.
Zahlreiche Rancher hatten ihr gesamtes Vieh verloren und ihre Gehöfte verlassen. Sie waren in die Kleinstädte und in die Großstädte gezogen und hatten Arbeit jeder Art angenommen, solange sie damit nur ihre Familien durchfüttern und unterbringen konnten, bis sie auf ihr Land zurückkehren konnten.
Chris entband Olivia von ihrem zweiten Kind, einer Tochter. Und Cassie entband Fiona von ihrem vierten Kind in vier Jahren, ihrer zweiten Tochter. Sie wußte nicht, daß Sam vorgeschlagen hatte, seine Tochter nach ihr zu benennen. Er hatte zu Olivia gesagt: »Wir nennen sie Sandy.«
»Nur über meine Leiche«, hatte
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