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Wer Mit Schuld Beladen Ist

Wer Mit Schuld Beladen Ist

Titel: Wer Mit Schuld Beladen Ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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ihr eigenes Keuchen und die Tränen hinweg hörte sie ein schrecklich reißendes Geräusch, das aus Russ’ Brust drang. Sein erster Schluchzer klang wie das Krachen des Eises im Frühling. Und dann brachen sie beide zusammen, sanken zu Boden, mit zitternden Knien, bebender Brust und nassen Gesichtern.
    Sie löste ihre Hände und hielt ihn umfasst, während sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde und sich der Schmerz in langen, zerstörerischen Schluchzern Bahn brach. Das Keuchen, das aus seiner Kehle drang, war so ohrenbetäubend, dass sie zuerst glaubte, sie hätte sich das Klingeln nur eingebildet. Doch es klingelte wieder und wieder. In den Pausen, wenn er nach Luft schnappte und sich vor-und zurückwiegte, war es laut und deutlich zu hören. Als sie die Tränen in ihren eigenen Augen wegblinzelte, sah sie Margy Van Alstyne, die das Telefon ergriff und sich damit ins Wohnzimmer zurückzog.
    Kurze Zeit später kehrte Margy zurück. Sie stellte das Telefon ab und kniete sich neben ihren Sohn, legte einen Arm um Clare und strich ihm mit der anderen Hand das Haar aus der Stirn. Clare spürte, wie er zitterte und sich entspannte, zitterte und sich entspannte, und ihr wurde bewusst, dass er versuchte, sich zu beruhigen.
    »Schätzchen«, sagte seine Mutter nach ein oder zwei Minuten, »das war Lyle MacAuley. Es gibt Neuigkeiten.« Russ rutschte von Clare fort, absichtlich diesmal, und sie hinderte ihn nicht daran. »Willst du sie hören, oder brauchst du noch ein bisschen Zeit?« Er setzte sich auf die Fersen, wischte sich das Gesicht mit seinem Flanellärmel ab und nickte Margy zu.
    »Lyle sagt, ein Junge in der Highschool wäre ins Büro der Direktorin gekommen und hätte darum gebeten, mit dir zu sprechen. Er behauptet, er hätte am Sonntag ein fremdes Auto in eurer Zufahrt gesehen. Lyle möchte wissen, ob du hinfahren und mit dem Zeugen reden willst oder ob er den Jungen zur Vernehmung mit ins Revier nehmen soll.«
    »Ja«, sagte er. Seine Stimme war belegt. Er hustete und versuchte es noch einmal. »Ja, ich rede mit ihm.«

13
    C lare schloss nicht aus, dass es Situationen geben mochte, in denen sie sich noch deplazierter fühlen würde. Zum Beispiel in voller Priestermontur bei einer Erweckungsversammlung. Oder in Shorts und Sport-BH mitten in Kandahar. Doch momentan führte das Sitzen im Büro der Direktorin der Highschool von Millers Kill die Hitliste an.
    Nachdem Russ’ Mutter die Nachricht von einem möglichen Durchbruch im Mordfall Linda Van Alstyne weitergegeben hatte, war er, wie ein Boxer im Ring nach einem Kinnhaken zu viel, schwankend vom Boden aufgestanden.
    »Ich werde hinfahren«, erklärte er.
    »Nicht in diesem Zustand, so nicht«, protestierte Margy.
    »Was?«
    »Russell Howard, in diesem Zustand fährst du nirgendwo hin.«
    Clare spürte, wie aus den Untiefen der letzten Minuten eine Humorblase nach oben schwebte. So lautete also sein zweiter Vorname. Es klang wie ein Filmstar aus den Dreißigern.
    »Mom …«
    »Hör auf mich, Schätzchen. Einen geliebten Menschen zu verlieren oder ein Baby zu bekommen, das sind die beiden Gelegenheiten, bei denen man seinem eigenen Verstand nicht trauen kann. Ich kann mich noch an einen Augenblick erinnern, kurz nachdem dein Vater gestorben war. Ich hätte fast einen Baum gerammt. Ich wusste einfach nicht mehr, wo ich war und was ich tat. Ich fahre dich in die Stadt.«
    »Du musst hier sein, wenn Debbie kommt.«
    »Ich werde fahren, Margy.« Clare platzte, ohne sich zu besinnen, mit dem Angebot heraus.
    Russ sah sie an.
    »Ich muss ohnehin zurück. Ich habe meine neue Diakonin einfach so stehenlassen.« Sie mied Russ’ Blick und sah stattdessen Margy an. »Ich bringe ihn zur Highschool, und wenn er fertig ist, setze ich ihn beim Revier ab. Ich bin sicher, dass ihn einer der Officer nach Hause fahren wird.«
    »Okay.« Russ’ Stimme, müde und fügsam, nachgiebig.
    »Oh.« Sie klang einfältig. »Wirklich?«
    Er nickte. »Ich schätze, ich sollte auf Mom hören.« Er wandte sich ab, um seinen karierten Schal von der Waschmaschine zu holen. »Ich habe zu viele Kerle aufgesammelt, die dachten, sie könnten nach ein paar Bier noch fahren. Manchmal kann man nicht selbst entscheiden, ob man noch imstande ist zu fahren oder nicht.«
    Margy nahm seine Jacke vom Haken und reichte sie ihm. »Wirst du rechtzeitig zum Abendessen zu Hause sein?«
    »Ich habe keinen Hunger.«
    Margy öffnete den Mund; Russ schien sich bewusst zu werden, dass seine Antwort

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