Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
den Grenzgebieten der syrischen Wüste und Gutäer aus den Bergen des heutigen Iran zogen als Händler und Arbeiter umher, waren in den Städten Mesopotamiens zum gewohnten Anblick geworden; ebenso wie die »Asiaten« – so die verächtliche Bezeichnung der Ägypter für diese Fremden – im Nil-Tal. Die Wirtschaftssysteme, Gesellschaften und Kulturen der Kernregionen bezogen immer weitere angrenzende Gebiete ein, wodurch sie selber wuchsen, ihre Umwelt immer besser zu beherrschen lernten und damit ihre gesellschaftliche Entwicklung vorantrieben. Der Preis für höhere Komplexität jedoch war wachsende Fragilität. Darin bestand – und besteht – das Paradox gesellschaftlicher Entwicklung.
Um 2200 v. u. Z., als Scharkalischarri, der Sohn des Gottkönigs Naram-Sin, ebenfalls als Gott verehrt und in Akkad thronend, über den größten Teil Mesopotamiens herrschte, begannen die Dinge schiefzulaufen. Wie genau – das glaubt Harvey Weiss, Archäologe an der Yale University, der die Grabungen in Tell Leilan (im heutigen Syrien) leitete, sagen zu können. Tell Leilan, um 2300 v. u. Z. zur Zeit Sargons eine Stadt mit 20 000 Einwohnern, war etwa ein Jahrhundert später nurmehr eine Geisterstadt. Auf der Suche nach einer Erklärung analysierten die Geologen aus Weiss’ Team die Sedimente mikroskopisch und fanden heraus, dass der Anteil des Staubs im Boden von Tell Leilan und angrenzenden Grabungsstätten kurz vor 2200 v. u. Z. plötzlich stark angestiegen war. Vermutlich hatten die Regenfälle abgenommen, die Bewässerungskanäle versandeten, und die Menschen zogen fort.
Auch im Nil-Tal, etwa 1600 Kilometer weiter westlich, gab es Probleme. Wie die Josephgeschichte berichtet, bediente sich der Pharao der Dienste von Traumdeutern, |193| um die Ernteerträge vorauszusagen. Die wirklichen Pharaonen hatten dafür Nilometer – Pegelskalen, die den Wasserstand anzeigten und damit gute oder schlechte Ernten absehbar machten. Inschriften, die einige dieser Messwerte festhalten, zeigen, dass der Wasserstand um 2200 v. u. Z. rapide gesunken war. Auch in Ägypten wurde es trockener.
Zuvor, um 3800 v. u. Z., hatte das trockenere Klima die Entfaltung und Größe Uruks bewirkt sowie die Kriege ausgelöst, in deren Folge Ägypten vereinigt worden war. Nun aber, in der komplizierter gewordenen, vielfacher vernetzten Welt des ausgehenden 3. Jahrtausends v. u. Z., bedeutete die Aufgabe einer Stadt wie Tell Leilan auch, dass Amoritern und »Asiaten« die Wirtschaftsbasis entzogen wurde – so, als wären Josephs Brüder nach Ägypten gezogen und hätten dort niemanden mehr angetroffen. Sie hätten dann entweder nach Hebron zurückkehren können, um ihrem Vater zu berichten, dass sie wohl alle Hungers sterben müssten, oder aber weiter ins Land des Pharao vordringen, um dort nach Möglichkeit Handel zu treiben beziehungsweise, wenn sich ihnen dazu keine Gelegenheit geboten hätte, zu stehlen und um Nahrung zu kämpfen.
Unter anderen Umständen hätten die Soldaten Akkads oder Ägyptens solche Wirtschaftsflüchtlinge oder Verbrecher (wie auch immer man das sehen will) vermutlich umgebracht, doch um 2200 v. u. Z. waren die Heere in Auflösung begriffen. Manche Mesopotamier hatten die Könige von Akkad als grausame Eroberer betrachtet, und als der angeblich göttliche Scharkalischarri mit den Problemen der Jahre um 2190 v. u. Z. nicht zurechtkam, kündigten ihm viele Priesterfamilien die Gefolgschaft. Sein Heer schrumpfte, Heerführer ließen sich ihrerseits zu Königen ausrufen; Banden von Amoritern übernahmen ganze Städte. In weniger als einem Jahrzehnt war das Reich zerfallen. Erneut war jede Stadt auf sich gestellt – in einer sumerischen Chronik heißt es: »Wer also war ein König? Wer war kein König?« 3
Auch in Ägypten wuchsen die Spannungen zwischen Hof und Adeligen, und Pharao Pepi II., der damals im 60. Jahr auf dem Thron saß, zeigte sich den Problemen nicht gewachsen. Während die Höflinge gegen ihn und gegeneinander Intrigen spannen, nahmen lokale Eliten die Dinge selbst in die Hand. In Unterägypten um 2160 v. u. Z. gelangte eine neue Dynastie mit einem Staatsstreich an die Macht, gleichzeitig zogen Dutzende auf eigene Faust operierende Kriegsherren und unbeherrschbare »asiatische« Banden marodierend durchs Land. Schlimmer noch: Im oberägyptischen Theben legte sich der Hohepriester des großen Amun-Tempels immer pompösere Titel zu und verwickelte den Pharao Unterägyptens immer wieder in Bürgerkriege.
Um etwa
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