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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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sie durch ihre Forschung gewannen, verhießen nichts Gutes. Es gebe nun einmal eherne Gesetze, die das Handeln der Menschheit bestimmten. Und eines dieser Gesetze laufe darauf hinaus, dass die Menschen jeden Anstieg der Produktivität und der Einkommen unweigerlich zum Anlass nehmen |472| würden, mehr Kinder in die Welt zu setzen. Diese Kinder würden den gesamten Wohlstandsüberschuss aufzehren und, schlimmer noch, als Erwachsene später eigene Arbeitsplätze beanspruchen, woraufhin die Löhne aufgrund der Konkurrenzsituation wieder so weit sinken würden, dass man davon nicht leben und nicht sterben könne.
    Aus diesem Teufelskreis schien es keinen Ausweg zu geben. Hätten die Nationalökonomen den Index der gesellschaftlichen Entwicklung gekannt, so hätten sie vermutlich darauf hingewiesen, dass sich die Obergrenze zwar ein Stück nach oben verschoben habe, aber so starr wie eh und je geblieben sei. Sie hätten vielleicht mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, dass der Westen 1773 den gleichen Entwicklungsstand erreicht hatte wie der Osten, hätten dies aber als relativ unwichtig abgetan, weil aufgrund der ehernen Gesetze keiner von beiden eine wesentlich höhere Punktzahl erzielen würde. Die Nationalökonomie hatte den wissenschaftlichen Beweis erbracht, dass sich eigentlich auf Dauer nichts ändern konnte.
    Und dann änderten sich die Dinge doch.

|473| Kapitel 10
Das westliche Zeitalter
    Wonach alle Welt verlangt
    Zuweilen scheint ein einziges Jahr unsere Welt ins Wanken zu bringen. Im Westen war 1776 ein solcher Augenblick. In Amerika wuchs sich ein Steuerboykott zur Revolution aus; in Glasgow vollendete Adam Smith seinen
Wohlstand der Nationen
, das erste und größte Werk der politischen Ökonomie; in London kam Edward Gibbons
Verfall und Untergang des Römischen Reiches
in die Buchläden und wurde über Nacht zur Sensation. Große Männer vollbrachten große Taten. Am 22. März selbigen Jahres indes befand sich James Boswell – neunter Gutsherr auf Auchinleck, verhinderter Literat und ehrgeiziger Schmeichler der Reichen und Berühmten – nicht in einem Salon voll sprühender Geister, sondern in einer Kutsche auf dem matschigen Weg nach Soho, einem Anwesen vor Birmingham in den englischen Midlands (Abbildung 10.1).
    Aus der Ferne mochten der Uhrenturm, der Kutschweg und die palladianische Fassade geradewegs den Anschein jener Art von Gutshof erwecken, in die Boswell gern zu Tee und Artigkeiten einkehrte, doch beim Näherkommen zerstreuten das Lärmen und Klirren niederfahrender Hämmer, quietschender Drehbänke und fluchender Arbeiter jede solche Anwandlung. So sah kein Schauplatz eines Jane-Austen-Romans aus. Was sich hier darbot, war eine Fabrik. Und trotz seiner Stellung und Ambitionen wollte Boswell sie sehen, denn nichts auf der Welt war mit Soho vergleichbar.
    Alles an der Fabrik erfüllte Boswells Erwartungen: ihre Hunderte von Arbeitern, die »ungeheure Größe und geniale Konstruktion einiger Maschinen«, und vor allem ihr Besitzer, Matthew Boulton ( »ein
Eisenhäuptling
«, wie Boswell ihn titulierte). Seinem Tagebuch vertraute Boswell an: »Ich werde niemals Mr. Boltons [
sic
] Ausspruch zu mir vergessen: ›Ich verkaufe hier, wonach alle Welt verlangt – Kraft.‹« 1 1*
    Es waren Männer wie Boulton, welche die düsteren Vorhersagen politischer Ökonomen Lügen straften. Als sich Boswell und Boulton 1776 begegneten, hatte sich die gesellschaftliche Entwicklung des Westens seit den eiszeitlichen Jägern und Sammlern, die auf Nahrungssuche die Tundra durchstreift hatten, gerade einmal mühsam auf 45 Punkte nach oben gearbeitet. Binnen der folgenden 100 |474| Jahre schoss sie indes um weitere
100
Punkte in die Höhe. Die Verwandlung war schier unglaublich, sie stellte die Welt auf den Kopf. 1776 lagen Osten und Westen immer noch Kopf an Kopf, nur geringfügig oberhalb der alten massiven Decke von 43 Punkten, an der bislang jede weitere Entwicklung abgeprallt war. Ein Jahrhundert später hatte der Verkauf von Kraft den westlichen Vorsprung in westliche Vorherrschaft verwandelt. Der Dichter William Wordsworth schrieb 1805:
    [Bild vergrößern]
    Abbildung 10.1: Der Verkauf von Kraft
    Die Wiege der Industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts.
    Es war nun wirklich
    Damals die Stunde allgemeiner Gärung:
    Die Sanftesten erschienen aufgerührt,
    Und Aufstand, Streit der Leidenschaften und
    Der Meinungen erfüllten selbst die Räume
    Der friedlichsten Behausungen mit Unruh’
    Und lärmendem

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