Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
Vom Netzwerk:
entfesseln, daher waren sie auch nicht mit den Problemen konfrontiert, die sich den Westeuropäern im 17. und 18. Jahrhundert aufdrängten. Newton, Watt und ihre Kollegen waren wohl keine größeren Geister als Cicero, Shen Kuo und ihre Kollegen; sie grübelten nur über anderen Problemen.
    Die westeuropäische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts war besser in der Lage als alle anderen, um die massive Decke fortzusprengen, die ihrer Entwicklungsdynamik Schranken setzte. Innerhalb von Westeuropa war der Nordwesten – mit seinen schwächeren Königen und freieren Händlern – besser darauf vorbereitet als der Südwesten. Und innerhalb des Nordwestens war es Großbritannien, das sich in der besten Ausgangsposition von allen befand. Bis 1770 hatte es nicht nur |483| höhere Löhne, mehr Kohle, eine größere Finanzkraft und wohl auch offenere Institutionen (zumindest für Menschen aus der Mittel- und Oberschicht) als alle anderen Länder, sondern – dank der Siege in seinen Kriegen mit den Niederländern und Franzosen – auch mehr Kolonien, ein größeres Handelsvolumen und mehr Kriegsschiffe.
    Eine industrielle Revolution konnte sich in Großbritannien eher ereignen als anderswo, doch besaß das Land keine ausschließliche Anwartschaft darauf. Wenn es französische und nicht britische Glocken gewesen wären, die 1759 vor lauter Siegesläuten dünner wurden, und wenn es Frankreich gewesen wäre, das Großbritannien seiner Marine, seiner Kolonien und seines Handels beraubt hätte statt umgekehrt, wäre ich als Kind von den Älteren nicht mit Geschichten gefüttert worden, wie Stoke-on-Trent zur Geburtshelferin der industriellen Revolution geworden war. Stattdessen hätten vielleicht die Alten in einer ebenso rußgeschwärzten französischen Stadt wie Lille diese Geschichte erzählt. Frankreich verfügte schließlich über eine Fülle von Erfindern und Unternehmern, und selbst eine kleine Verschiebung in den Produktionsfaktoren des Landes oder Entscheidungen von Königen und Generälen hätte einen großen Unterschied machen können.
    Große Männer, vertrottelte Stümper und schieres Glück hatten eine Menge damit zu tun, warum die industrielle Revolution britisch statt französisch war, aber sie waren in weit geringerem Maße dafür verantwortlich, warum dem Westen überhaupt eine industrielle Revolution gelang. Um dies zu erklären, müssen wir auf größere Kräfte schauen. Sobald nämlich ausreichend Technologie akkumuliert war, sobald der Steppenschnellweg verschlossen und die Seeschifffahrtswege über die Ozeane gebahnt waren – um, sagen wir, 1650 oder 1700 herum –, ist es nur schwer vorstellbar, was noch hätte verhindern sollen, dass sich
irgendwo
in Westeuropa eine industrielle Revolution ereignete. Wenn Frankreich oder die Niederlande zur Werkbank der Welt geworden wären statt England, wäre die industrielle Revolution vielleicht langsamer zum Durchbruch gekommen und hätte womöglich erst in den 1870er statt den 1770er Jahren begonnen. Die Welt, in der wir heute leben, wäre anders, doch Westeuropa hätte dennoch die ursprüngliche industrielle Revolution gehabt, und der Westen hielte trotzdem noch die Vorherrschaft inne. Dann hätte ich zwar immer noch guten Grund, dieses Buch zu schreiben, aber vielleicht auf Französisch statt auf Englisch.
    Es sei denn, der Osten hätte sich auf eigene Weise zuerst industrialisiert. Hätte das geschehen können, wenn die westliche Industrialisierung langsamer verlaufen wäre? Hier häufe ich natürlich Hypothese auf Hypothese, doch ich glaube, die Antwort müsste ziemlich klar ausfallen: wahrscheinlich nicht. Obwohl die gesellschaftliche Entwicklung von Ost und West bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gleichauf lag, deuten nur wenige Anzeichen darauf hin, dass der Osten, wäre er auf sich gestellt geblieben, schnell genug in Richtung Industrialisierung |484| vorangekommen wäre, um sich im 19. Jahrhundert aus eigener Kraft emporzuschwingen.
    Der Osten verfügte über große Märkte und einen lebhaften Handel, doch funktionierten diese nicht so wie in der atlantischen Wirtschaft des Westens. Gewöhnliche Menschen im Osten waren zwar nicht so arm, wie Adam Smith in
Wohlstand der Nationen
behauptete ( »Die Armut der Unterschicht übertrifft in China die in den allerärmsten Ländern Europas noch bei weitem.« 8 ), aber, wie Abbildung 10.3 zeigt, alles andere als wohlhabend. Arbeiter in Beijing 1* hatten es nicht schlechter als Florentiner, waren aber wesentlich

Weitere Kostenlose Bücher