Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Lebenserwartung stieg zwischen 1750 und 1850 um etwa drei Jahre. Die Historiker sind sich zwar nicht einig, warum dies geschah (ob dafür weniger Pestausbrüche, nahrhafteres Essen, eine bessere Wasserversorgung und Kanalisation, ein klügeres Verhalten während der Schwangerschaft, Baumwollunterwäsche oder völlig andere Gründe verantwortlich waren), doch diese gewonnenen Jahre bedeuteten, dass Frauen drei Jahre länger schwanger werden konnten. Sofern sie nicht später heirateten, ihre Sexualpraktiken änderten, ihre Kinder abtrieben oder verhungern ließen, hatten sie mehr Nachwuchs großzuziehen. Tatsächlich änderten Frauen ihr Verhalten, doch nicht genug, um ihre höhere Lebenserwartung auszugleichen, und so kam es zwischen 1780 und 1830 grob gerechnet zu einer Verdoppelung der britischen Bevölkerung auf etwa 14 Millionen. Etwa eine Million dieser zusätzlichen |488| Menschen blieb auf dem Land, doch sechs Millionen suchten Arbeit in den Städten.
Diese harten demografischen Tatsachen lassen das Glas der industriellen Revolution als halb gefüllt statt halb leer erscheinen. Die Industrialisierung war traumatisch, doch die Alternativen wären schlimmer gewesen. Im 16. Jahrhundert waren die Löhne überall im Westen eingebrochen, weil die Bevölkerung wuchs, doch nach 1775 stiegen die britischen Löhne tatsächlich und zogen allen anderen davon (Abbildung 10.3). Als die Briten wirklich hungerten, wie während der entsetzlichen irischen Hungersnot in den 1840er Jahren, hatte dies mehr mit der Kartoffelfäule, mit gierigen Landbesitzern und dummen Politikern als mit der Industrie zu tun (von der in Irland kaum die Rede sein konnte).
Die Ironie ist, dass sich eben in jenen Jahren, als Marx und Engels ihre Doktrinen formulierten, das Blatt zugunsten der Arbeiter zu wenden begann. Seit 1780 hatten die Kapitalisten einen erheblichen Teil ihrer Profite auf Landhäuser, Adelstitel und andere Statussymbole für Emporkömmlinge verwendet, doch noch größere Beträge hatten sie in neue Maschinen und Hütten zurückgesteckt. Bis etwa 1830 machten diese Investitionen die mechanisch gesteigerte Arbeit jedes dreckstarrenden, schlecht ernährten und ungebildeten Lohnarbeiters so profitabel, dass es die Bosse häufig vorzogen, Abmachungen mit Streikenden zu treffen, als sie zu feuern und mit anderen Fabrikherren um neue Arbeiter zu konkurrieren. In den folgenden 50 Jahren wuchsen die Löhne so schnell wie die Gewinne, und 1848, als Marx und Engels das
Kommunistische Manifest
veröffentlichten, eroberten die Löhne der britischen Arbeiter wieder jene Höhen zurück, die sie nach dem Schwarzen Tod erklommen hatten.
In den 1830er Jahren brach sich, wie es in jeder Epoche geschieht, das Denken Bahn, das die Zeit brauchte, und als die Arbeiter wertvoller wurden, entdeckten die Mittelschichten eine – gewisse – Sympathie für die Unterdrückten. Einerseits erschien Arbeitslosigkeit bald als entschieden verwerflich, und Arme wurden (zu ihrem eigenen Besten, wie die Mittelschichten sagten) ins Arbeitshaus gesteckt; andererseits machte Dickens’ Bild eines solchen Arbeitshauses seinen Roman
Oliver Twist
zu einem Bestseller. Reformen wurden zur Losung der Stunde. Offizielle Kommissionen prangerten städtisches Elend an, das Parlament verbannte Kinder unter neun Jahren aus den Fabriken und beschränkte die Arbeit für unter 13-Jährige auf eine 48-Stunden-Woche, und es wurden die ersten holprigen Schritte zur Bildung der Massen unternommen.
Diese frühen Reformer der viktorianischen Epoche mögen uns heute heuchlerisch vorkommen, doch schon die bloße Idee, praktische Schritte zur Verbesserung des Lebens der Armen zu unternehmen, war revolutionär. Der Gegensatz zum östlichen Kerngebiet ist besonders stark. In China, wo Gradgrinds, Coketowns und Fabrikarbeiter auffällig selten blieben, fuhren gelehrte Herren mit der jahrhundertealten Tradition fort, handbemalte Schriftrollen mit utopischen Reformvorschlägen an kaiserliche Bürokraten zu schicken, die sie nach ebenso |489| alter Sitte zu ignorieren pflegten. Möchtegernreformer rekrutierten sich weiterhin weitgehend aus den Rändern der Elite. Hong Liangji (der wegen »höchster Unschicklichkeit« zum Tode verurteilt wurde, nachdem er die Untätigkeit der Regierung in sozialen Fragen kritisiert hatte) und Gong Zizhen (ein Exzentriker, der sich seltsam kleidete, sich einer wilden Kalligraphie bediente und wie ein Verrückter dem Spiel frönte), vielleicht die konstruktivsten
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