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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neu gebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. 23
     
    Wenn überkommene Regeln und Festlegungen, wie sich die Menschen zu kleiden hatten, zu wem sie beten sollten und welche Arbeit sie ausüben durften, mit der Produktivität und dem Marktwachstum in Konflikt gerieten, dann mussten diese Traditionen weichen. Der liberale Denker John Stuart Mill folgerte, dass »der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. … Über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist ist der Einzelne souveräner Herrscher.« 24 Alles andere stand nunmehr zur freien Disposition.
    |495| Leibeigenschaft, Handwerkszünfte und andere rechtliche Beschränkungen der Bewegungs- und Berufsfreiheit zerbröckelten. Es bedurfte eines Krieges, eines furchtbaren Krieges mit mehr als 600   000 Toten, um die amerikanische Sklaverei 1865 zu beenden, doch innerhalb einer Generation erließen die anderen Sklavenhalterstaaten des Westens Gesetze, um mit dieser kollektiven Freiheitsberaubung friedlich (und häufig gewinnbringend) Schluss zu machen. Arbeitgeber trafen mit den Arbeitern zunehmend Übereinkünfte, und nach 1870 legalisierten die meisten Länder Gewerkschaften und sozialistische Parteien, gewährten Männern das allgemeine Wahlrecht und sorgten für eine freie, verpflichtende Grundschuldbildung. Als die Löhne und der Lebensstandard stiegen, führten einige Regierungen öffentliche Gesundheitsprogramme, Renten- und Arbeitslosenversicherungen ein. Im Gegenzug waren die Arbeiter zum vaterländischen Dienst in Armee und Marine bereit.
    Die Liberalisierung nagte selbst an den ältesten Vorurteilen. Beinahe 2000 Jahre lang hatten die Christen Juden und sonstige Andersgläubige verfolgt, doch plötzlich erschien der Glaube der Menschen als ihre Privatsache. Die Anbetung fremder Götter war kein Grund mehr, ihnen den Erwerb von Eigentum oder das Wahlrecht vorzuenthalten. Tatsächlich schien für eine wachsende Zahl von Menschen der Glaube überhaupt kein Thema mehr zu sein, und neue Glaubensüberzeugungen wie Sozialismus, Evolutionismus und Nationalismus füllten den Platz aus, den die Religion so lange eingenommen hatte. Und als wäre die Entthronung Gottes noch nicht genug, geriet das ehernste Vorurteil von allen, die Minderwertigkeit der Frau, ebenfalls unter Beschuss. So war John Stuart Mill überzeugt, dass »das Prinzip, nach welchem die jetzt existierenden sozialen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern geregelt werden – die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechtes unter das andere –, an und für sich ein Unrecht und gegenwärtig eines der wesentlichsten Hindernisse für eine höhere Vervollkommnung der Menschheit« sei. Kein »Sklave ist Sklave in solcher Ausdehnung und in so vollem Sinne des Wortes, wie es die Frau ist« 25 .
    Film und Literatur stellen die Viktorianische Zeit häufig als eine behagliche, von Kerzen erleuchtete Welt knisternder Kamine dar, bevölkert von Menschen, die ihren Platz in der Gesellschaft kannten, doch Zeitgenossen erlebten sie ganz anders. Der Westen des 19. Jahrhunderts glich einem »Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor«, wie es Marx und Engels formulierten. 26 Einige Künstler und Intellektuelle schwelgten darin, die Konservativen stemmten sich dagegen. Die Kirchen bezogen – einige plump, andere klug – Stellung gegen Sozialismus, Materialismus und Wissenschaft; Großgrundbesitzer verteidigten ihre Privilegien. Immer wieder kann es zu Zusammenstößen, und die konnten auch gewaltsam sein.
    Die westliche Gesellschaft entledigte sich in raschem Tempo jener Züge, die sie noch um 1750 herum dem Osten so ähnlich gemacht hatte. Wie so häufig offenbart sich dies nirgends so deutlich wie in der Literatur. Man sucht in der chinesischen |496| Belletristik des 19. Jahrhunderts vergeblich nach durchsetzungsfähigen Heldinnen der Art, wie sie zur gleichen Zeit die Seiten europäischer Romane füllen. Einem Protest gegen die Unterjochung der Frau am nächsten kommt vielleicht die bizarre Satire
Im Land der Frauen
von Li Ruzhen, in

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