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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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der ein Kaufmann zwangsweise bis hin zum Fußbinden feminisiert wird:
     
    Zwar wurden sie [seine Füße] vor jedem Einbinden mit Fußbalsam gebadet und mit Alaunpulver bestreut, dennoch begann das Fleisch an den Zehen langsam wegzufaulen, und täglich tropfte neues, mit Eiter vermischtes Blut durch die Bandagen. Er lebte noch keinen Monat im Wohnturm, da waren seine Füße bereits so krumm wie Mondsicheln. 27
     
    Helden, die einen sozialen Aufstieg schaffen, wie bei Dickens, sind schwer zu finden, noch weniger der Schlag des Selfmademan, den Samuel Smiles beschrieb. Die Stimmung von Shen Fus herzergreifenden
Sechs Aufzeichnungen über ein unstetes Leben
ist mit seiner romantischen und bewegenden Schilderung eines Lebens, dessen Aspirationen einer rigiden Hierarchie zum Opfer fallen, weitaus typischer.
    Das wirklich Neue am Westen war jedoch, dass er, je mehr er sein Entwicklungstempo beschleunigte und Pfade hinunterjagte, die sich so gänzlich von jenen unterschieden, auf denen der Rest der Welt dahintrottete, desto stärker diese übrige Welt zwang, seiner Richtung und seiner frenetischen Geschwindigkeit zu folgen. Der Markt duldete kein Rasten. Er musste expandieren, immer mehr Aktivitäten in sich aufsaugen, oder das rasende Ungeheuer der Industrie würde sterben. Das ätzende liberale Säurebad zerfraß nicht nur die Schranken innerhalb von Gesellschaften, sondern auch die Grenzen zwischen ihnen, und kein Maß an Sitten, Traditionen oder kaiserlichen Edikten vermochte jene althergebrachte Ordnung zu retten, an der Shen Fu so gelitten hatte. Bereit oder nicht, die Welt war eins geworden.
    Nemesis
    Die Globalisierung offenbarte das Geheimnis des Zeitalters: Es ist einfach unsinnig, angesichts dieser neuen Verhältnisse davon zu sprechen, dass der Westen die übrige Welt in der gesellschaftlichen Entwicklung lediglich
anführte
.
    Jahrtausendelang hatten sich die ursprünglichen landwirtschaftlichen Kerngebiete in mehreren Teilen des Planeten weitgehend unabhängig voneinander ausgedehnt, doch die aufwärtsgerichtete Bewegung der gesellschaftlichen Entwicklung transformierte die geographischen Bedingungen stetig und band die Kerngebiete der Welt zusammen. Bereits im 16. Jahrhundert ermöglichten neue Schiffstypen den Europäern, die Azteken und Inkas zu überwältigen und aus den zuvor unabhängigen Kerngebieten der Neuen Welt die weiträumige Peripherie eines enorm erweiterten Westens zu machen. Im 18. Jahrhundert begannen die |497| Europäer, das südasiatische Kerngebiet in eine weitere solche Peripherie zu verwandeln, und im 19. Jahrhundert verschafften Dampfschiffe, Eisenbahnen und die Telegraphie dem Westen eine weltweite Reichweite und sprengten abermals die geographischen Beschränkungen. Großbritannien, die Großmacht des Westens, konnte seinen Willen nun beinahe überall auf dem Planeten durchsetzen, und als die Westler ihre Energieausbeute steigerten, schoss der Anteil, den sie für den Krieg verausgabten, exponentiell in die Höhe. Die Energieausbeute des Westens stieg zwischen 1800 und 1900 um das Zweieinhalbfache, seine militärischen Fähigkeiten dagegen um das Zehnfache. Die industrielle Revolution verwandelte die westliche Führungsrolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung in eine westliche Vorherrschaft.
    Es war daher sehr ärgerlich, dass die östlichen Großmächte diesen Umstand ignorierten und die westlichen Händler auf winzige Enklaven in Guangzhou und Nagasaki beschränkten. Als der britische Lord Macartney, wie in Kapitel 9 erwähnt, 1793 nach Beijing reiste, um die Öffnung der Märkte zu verlangen, wies ihn Kaiser Qianlong brüsk zurück – obwohl, wie Macartney in seinem Tagebuch säuerlich bemerkte, die gewöhnlichen Chinesen »alle Händlerseelen sind, und es schien in den Seehäfen, in denen wir anlegten, dass sie nichts lieber sähen, als wenn unsere Schiffe gar häufig ihre Häfen anliefen« 28 .
    In den 1830er Jahren spitzte sich die Lage zu. Drei Jahrhunderte lang waren westliche Kaufleute nach Guangzhou gereist, um Silber – für die chinesischen Beamten anscheinend die einzige Ware von Interesse im Angebot der weißen Händler – gegen Tee und Seide zu tauschen. Schon in den 1780er Jahren waren jedes Jahr annähernd 700 Tonnen westliches Silber nach Guangzhou geflossen. Die Britische Ostindienkompanie hatte jedoch entdeckt, dass – mochten die chinesischen Beamten sagen, was sie wollten – viele Chinesen auch die in Indien angebaute Wunderdroge Opium begehrten. Die

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