Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Meine Mutter hatte mich einmal zwischen neun und zehn Uhr abends nach einem Laden geschickt, um Hefe zu holen; mein Vater war nicht zu Hause. Auf dem Rückwege fiel ich auf der Straße hin und verschüttete den ganzen Inhalt der Tasse. Mein erster Gedanke war, wie zornig meine Mutter darüber sein werde. Inzwischen fühlte ich einen furchtbaren Schmerz im linken Arm und konnte nicht aufstehen. Einige Passanten blieben um mich herum stehen; eine alte Frau versuchte, mich aufzuheben, und ein vorüberlaufender Junge schlug mich mit einem Schlüssel auf den Kopf. Endlich brachte man mich wieder auf die Beine; ich sammelte die Scherben der zerbrochenen Tasse und ging schwankend weiter; ich konnte kaum die Füße bewegen. Auf einmal erblickte ich meinen Vater. Er stand in einem Menschenschwarm vor einem prächtigen Hause, das dem unsrigen gegenüberlag. Dieses Haus gehörte vornehmen Leuten und war glänzend erleuchtet; vor dem Portal standen eine Menge Equipagen, und Musik drang aus den Fenstern auf die Straße. Ich faßte meinen Vater am Rockflügel, zeigte ihm die zerbrochene Tasse und sagte unter Tränen, ich hätte Angst davor, zur Mutter zu gehen. Eigentümlicherweise war ich überzeugt, daß er sich meiner annehmen werde. Aber woher war ich überzeugt, wer hatte mir das eingeflüstert, wer hatte mich zu dem Glauben gebracht, daß er mich mehr liebe, als es meine Mutter tat? Warum ging ich zu ihm ohne Furcht? Er nahm mich bei der Hand und begann, mich zu trösten; dann sagte er, er wolle mir etwas zeigen, und hob mich auf seinen Armen in die Höhe. Ich konnte nichts sehen, weil er mich an meinen verletzten Arm gefaßt hatte und es mir furchtbar weh tat; aber ich schrie nicht, ich fürchtete, ihn dadurch aufzubringen. Er fragte mich fortwährend, ob ich etwas sähe. Ich bemühte mich aus aller Kraft, so zu antworten, daß er damit zufrieden wäre, und sagte, ich sähe rote Vorhänge. Als er mich aber auf die andere Seite der Straße hinübertragen wollte, näher an das Haus heran, da fing ich, ich weiß nicht warum, auf einmal an zu weinen, umarmte ihn und bat ihn, mich nur recht schnell nach oben zur Mutter zu bringen. Ich erinnere mich, daß mir damals die Liebkosungen des Vaters peinlich waren; ich konnte es nicht ertragen, daß die eine derjenigen beiden Personen, die ich so gern lieben wollte, freundlich und zärtlich zu mir war und ich mich nicht traute zu der andern hinzugehen und mich vor ihr fürchtete. Aber meine Mutter wurde fast gar nicht böse und hieß mich zu Bette gehen. Ich erinnere mich, daß der Schmerz in meinem Arme immer ärger wurde, so daß ich fieberte. Indessen, ich war sehr glücklich darüber, daß alles so gut abgelaufen war, und träumte in dieser ganzen Nacht von dem Nachbarhause mit den roten Vorhängen.
Als ich am andern Tage aufwachte, war mein erster Gedanke und meine erste Sorge das Haus mit den roten Vorhängen. Kaum war meine Mutter ausgegangen, so kletterte ich auf ein Fensterbrett hinauf und begann, das Haus zu betrachten. Schon lange hatte dieses Haus meine kindliche Neugier wachgerufen. Besonders gern betrachtete ich es am Abend, wenn in allen Häusern der Straße Licht angezündet wurde, und wenn dann hinter den großen Scheiben dieses hell erleuchteten Hauses die purpurnen Gardinen mit einem eigentümlichen blutroten Scheine leuchteten. Beim Portal kamen fast immer prächtige Equipagen vorgefahren, mit schönen, stolzen Pferden bespannt, und alles erregte mein lebhaftes Interesse: das Geschrei und hastige Treiben am Eingang und die verschiedenfarbigen Wagenlaternen und die geputzten Damen, die gefahren kamen. All das nahm in meiner kindlichen Phantasie eine königlich prunkvolle, märchenhaft zauberische Gestalt an. Jetzt nun, nach dem Zusammentreffen mit dem Vater bei dem reichen Hause, wurde das Haus für mich doppelt wundervoll und interessant. Jetzt entstanden in meiner aufgeregten Einbildungskraft seltsame Begriffe und Vorstellungen. Und ich wundere mich nicht, daß ich zwischen so sonderbaren Menschen, wie es mein Vater und meine Mutter waren, selbst ein so sonderbares, phantasievolles Kind wurde. Besonders auffällig war mir der Gegensatz ihrer Charaktere. Es fiel mir zum Beispiel auf, daß meine Mutter fortwährend ihre Sorge und Mühe mit unserer ärmlichen Wirtschaft hatte und fortwährend dem Vater Vorwürfe darüber machte, daß sie allein sich für alle abquälen müsse, und ich stellte mir unwillkürlich die Frage: warum hilft ihr denn der Vater gar nicht,
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