Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
etwas sehnend. Indem ich sie beide aufmerksam beobachtete, begriff ich die wechselseitigen Beziehungen vollkommen: ich begriff diese ihre dumpfe, stete Feindschaft, begriff dieses ganze Leid und diese ganze Benommenheit, die durch das unordentliche Leben in unserer Dachstube hervorgerufen war; allerdings begriff ich das alles mit Ausschluß der Ursachen und der Folgen; ich begriff es nur so weit, als ich es eben begreifen konnte. An langen Winterabenden, wenn ich so in einen Winkel gedrückt dasaß, beobachtete ich meine Eltern manchmal ganze Stunden lang mit größter Aufmerksamkeit, sah meinem Vater ins Gesicht und versuchte zu erraten, woran er denke, und was ihn so beschäftige. Dann wieder war ich überrascht und erschrocken beim Anblicke der Mutter. Sie ging immer ohne müde zu werden im Zimmer hin und her, stundenlang, oft sogar in der Nacht, wenn sie an Schlaflosigkeit litt. Sie flüsterte dabei etwas vor sich hin, wie wenn sie allein im Zimmer wäre, breitete bald die Arme auseinander, bald verschränkte sie sie über der Brust, bald rang sie die Hände in schrecklichem, unsäglichem Grame. Manchmal flossen ihr die Tränen über das Gesicht, Tränen für die sie vielleicht selbst oft keinen Grund wußte, da sie zeitweilig in völlige Selbstvergessenheit verfiel. Sie litt an einer sehr schweren Krankheit, vernachlässigte sie aber vollständig.
Ich erinnere mich, daß mir meine Vereinsamung und mein Stillschweigen, das ich nicht zu brechen wagte, immer drückender wurden. Schon ein ganzes Jahr lang führte ich ein bewußtes Leben, immer nachdenkend, träumend und mich im stillen mit seltsamen, unklaren Hoffnungen und Plänen quälend, die plötzlich in meinem Kopfe aufschossen. Ich wurde so scheu wie ein Tier des Waldes. Endlich bemerkte das zuerst mein Vater, rief mich zu sich und fragte mich, warum ich ihn so unverwandt ansähe. Ich erinnere mich nicht, was ich ihm antwortete; ich weiß nur noch, daß er über irgend etwas nachdachte und schließlich, indem er mich ansah, sagte, er werde gleich morgen eine Fibel mitbringen und anfangen, mich lesen zu lehren. Ich sah dieser Fibel mit Ungeduld entgegen und gab mich die ganze Nacht seltsamen Träumereien darüber hin, da ich nur eine sehr unklare Vorstellung davon hatte, was eine Fibel eigentlich war. Endlich begann am andern Tage der Vater wirklich, mich lesen zu lehren. Ich verstand das, was er von mir forderte, ohne lange Erklärungen und lernte schnell, da ich wußte, daß ich meinem Vater dadurch eine Freude machte. Es war dies die glücklichste Zeit meines damaligen Lebens. Wenn er mich für meine gute Auffassung lobte, mir den Kopf streichelte und mich küßte, dann fing ich sogleich vor Entzücken an zu weinen. Allmählich gewann mich mein Vater lieb: ich wagte es schon, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, und wir redeten oft ganze Stunden lang zusammen, ohne daß ich müde geworden wäre, obgleich ich manchmal kein Wort von dem verstand, was er zu mir sagte. Aber in gewisser Hinsicht fürchtete ich ihn: ich fürchtete, er könnte denken, daß ich mich bei ihm langweilte, und darum bemühte ich mich aus aller Kraft, ihm zu zeigen, daß ich alles verstände. Schließlich wurde es ihm ganz zur Gewohnheit, abends mit mir zusammenzusitzen. Sobald es anfing dunkel zu werden und er nach Hause kam, trat ich sofort mit der Fibel zu ihm heran. Ich mußte mich ihm gegenüber auf ein Bänkchen setzen, und nach dem Unterrichte las er mir aus irgendeinem Buche vor. Ich verstand nichts davon, lachte aber unaufhörlich, weil ich ihm damit ein großes Vergnügen zu machen meinte. In der Tat amüsierte er sich über mich, und es stimmte ihn heiter, mich lachen zu sehen. Zu dieser selben Zeit erzählte er mir einmal nach dem Unterrichte ein Märchen. Es war dies das erste Märchen, das ich zu hören bekam. Ich saß wie verzaubert da, folgte der Erzählung mit fieberhafter Spannung, fühlte mich beim Anhören in ein Paradies versetzt, und als die Erzählung zu Ende war, war ich außer mir vor Entzücken. Nicht daß das Märchen selbst auf mich so stark gewirkt hätte, nein; aber ich nahm alles für Wahrheit, ließ gleichzeitig meiner reichen Phantasie freien Lauf und vermischte sofort Erfindung und Wirklichkeit. Sogleich erschien vor meinem geistigen Auge auch das Haus mit den roten Vorhängen; gleichzeitig erschien (unverständlich wie) als handelnde Person auch mein Vater, der mir dieses Märchen selbst erzählt hatte, und meine Mutter, die uns beide hindern wollte,
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