Wie ein Ruf in der Stille: Roman (German Edition)
ordentlich fragen. Wie soll ich sonst wissen, was du möchtest?« Jennifer, die sie verstanden hatte, schlang die weichen Ärmchen um Lauris Hals. Als sie ihre Lehrerin wieder losließ, formten ihre Finger: Ich mag dich, Lauri. Und artikulierte ihren Namen.
Ich mag dich auch, gab Lauri zurück. Sie küsste die Kleine auf die Stirn.
Erkennbar erleichtert begannen Betty und ihre Kinder wieder fröhlich zu plaudern. Drake sagte nichts, indes fing Lauri seinen Blick auf. Die grünen Augen musterten sie provozierend und auch ein bisschen neidisch. Die Botschaft, die Lauri ihm über Jennifers Kopf hinweg signalisierte, war eindeutig: Misch dich ja nicht wieder in meinen Unterricht ein.
Ein paar Tage später krachte es erneut, und dieses Mal heftiger.
Gleich nach dem Frühstück setzte Lauri sich hin, um einen Brief an ihre Eltern zu schreiben. Bevor der Briefkasten geleert würde, wollte sie ihn noch rasch einwerfen. Sie erklärte Jennifer, dass sie etwas später mit dem Unterricht anfangen würden, und schickte sie zum Spielen in ihr Zimmer. Drake machte sich irgendwo im Garten nützlich.
Lauri beendete ihren Brief, warf ihn in den Postkasten und ging hinauf, um Jennifer zu holen. Die Kleine war, wie sie unvermittelt realisierte, in der letzten Stunde verdächtig still gewesen und hatte sich eigenartigerweise auch nicht blicken lassen.
Sie war nicht in ihrem Zimmer, und sie war auch nicht unten, sonst hätte Lauri sie gesehen. Als sie auf ihrer Suche ihr Schlafzimmer betrat, vernahm sie leises Gemurmel aus dem Bad. Sie glitt durch die Tür und blieb wie angewurzelt stehen. Wenn sie mit allem gerechnet hätte, aber damit nicht!
Jennifer hatte sämtliche Cremes, Make-up-Tuben, Lippenstifte und Puderdosen von Lauri geöffnet und an sich selbst ausprobiert. Töpfchen und Tiegel standen aufgeschraubt auf dem Waschtischrand, waren teilweise umgekippt und ausgelaufen. Das Engelsgesicht der Kleinen mutete wie die Farbpalette eines modernen Malers an. Sie hatte sich die Augen mit grässlichen Mengen Lidschatten, Brauenstift und Mascara bemalt. Wangen und Stirn mit Rouge, Lipgloss und diversen Make-up-Farben vollgekleistert. Lotions, Cremes und Puder verklecksten und verstaubten die Marmorplatte der Ablage, bildeten einen ekligen, wenn auch duftenden Mischmasch.
Als Jennifer Lauris Gesicht im Spiegel gewahrte, wusste sie spontan, dass der Spaß vorbei war. Erfolglos versuchte sie, eine Tube Nachtcreme zuzuschrauben, die sie großzügig auf ihren Knien verteilt hatte. Nahm ein Kleenex und rieb damit über den marmornen Waschtisch. Als sie merkte, dass ihre Putzbemühungen vergeblich waren und das Chaos eher verschlimmerten, fing ihre Unterlippe verräterisch an zu zittern. Schuldbewusst fixierte sie ihre Lehrerin.
»Jennifer«, sagte Lauri streng, »das war ungehorsam von dir! Das ist schlimm, und ich bin dir böse!« Während sie sprach, übertrug sie alles in die Gebärdensprache, damit die Kleine auch alles genau verstand. »Du weißt doch sicher ganz genau, warum ich dir böse bin, oder?«, erkundigte sie sich ungehalten.
Jennifer nickte und schluchzte leise beschämt auf.
Lauri sah sie eindringlich an. »Dafür gibt’s was hinten drauf, damit du nie wieder vergisst, dass man die Sachen von anderen Leuten nicht anrühren darf. Stell dir bloß mal vor, ich würde das mit deinem Kinderzimmer machen. Du möchtest doch auch nicht, dass deine Spielsachen zerstört werden, oder?«
Das Kind schüttelte beklommen den Kopf.
Lauri führte sie zu dem Badezimmerschränkchen, setzte sich darauf und legte sie übers Knie. Gab ihr einen Klaps auf den Allerwertesten. Mittlerweile schluchzte Jennifer zum Steinerweichen.
»Was zum Teufel machst du da?« Drake baute sich im Türrahmen auf.
Lauri setzte Jennifer ab und wollte sie umarmen, doch
das Kind riss sich von ihr los und stürzte sich in die Arme ihres Vaters. Der funkelte Lauri an.
Sie sagte ganz gefasst: »Das sieht man doch. Ich habe Lauri einen verdienten Klaps gegeben.«
»Tu das nie wieder«, knirschte er kurz angebunden, während er beschwichtigend über den Rücken der Kleinen streichelte. Das Gesicht an seiner Schulter vergraben, schluchzte sie hemmungslos.
»Oh doch, und ob ich das tue. Und ich wäre dir ausgesprochen dankbar, wenn du mir nicht in meine pädagogischen Methoden hereinfunken würdest und das Kind auch noch tröstest.«
»Sie begreift nicht, warum du das gemacht hast.«
»Natürlich begreift sie das!«, protestierte Lauri, zunehmend aufgebrachter.
Weitere Kostenlose Bücher