Wie eine Rose im Morgentau
ablehnen und ihn damit verletzen.“
Rachel biss sich auf die Unterlippe. Bryn und verletzt? Sie hatte geglaubt, dass er eher verärgert sein würde, aber selbst er war wohl nicht gefeit gegen normal menschliche Gefühle.
Wie Verletzlichkeit, Schmerz – und Leidenschaft.
Aber hatte die unerwartete Leidenschaft, die er am vergangenen Abend gezeigt hatte, tatsächlich ihr gegolten, oder war sie vor allem eine Antwort auf den Schmerz, weil Kinzi keine Rolle mehr in seinem Leben spielte?
Vielleicht war es ja auch nur eine ganz normale männliche Reaktion auf eine Frau, die alle Register gezogen hatte, um sich so anziehend wie möglich zu machen. Eine Frau, mit der er getanzt und gelacht hatte und die ihr hilfloses Sehnen nach ihm wahrscheinlich kaum hatte verbergen können. Sie war ja nicht einmal in der Lage gewesen, sich gegen seine Küsse und Liebkosungen zu wehren, bis er vorgeschlagen hatte, ihr Liebespiel im Bett fortzusetzen.
Bei der Erinnerung daran errötete sie. Pearl, die sich eben zu ihr umgedreht hatte, sah sie überrascht an, ehe ein verhaltenes, gewollt unschuldiges Lächeln um ihre Lippen spielte.
Bei dem verspäteten Frühstück bestritt Pearl den größten Teil der Konversation. Rachel und Bryn beantworteten allerdings ihre Fragen nach dem Ball und versicherten, sich gut amüsiert zu haben. Doch Rachel vermied es, Bryn anzusehen, der mit ernster, unbewegter Miene am Tisch saß. Entweder ignorierte er das, was am Abend zuvor passiert war, oder bereute im Nachhinein den Vorfall.
Auch wenn Rachels Anspannung allmählich nachließ, schwelte tief in ihr ein unvernünftiger Groll wegen der pikanten Episode. Bryn tat so, als sei nichts geschehen. Dass sie verzweifelt versuchte, es ihm gleichzutun, hob auch nicht ihre Stimmung.
Später führte er sie und Pearl zum Lunch in ein exklusives Café im Hafen. Danach brachte er sie zurück, verstaute ihre Taschen im Wagen, küsste seine Mutter auf die Wange und meinte zu Rachel: „Fahr vorsichtig.“
„Eigentlich bin ich noch ein bisschen müde nach dem letzten Abend“, meinte Rachel spontan. „Möchtest du nicht fahren, Pearl?“
Bryn warf ihr einen Blick zu, während seine Mutter schnell anmerkte: „Ich … ich bin schon seit Jahren nicht mehr gefahren. Ich glaube nicht, dass ich …“
„Heute ist Sonntag“, unterbrach Bryn. „Da ist nicht viel Verkehr. Die beste Gelegenheit also, um wieder in Übung zu kommen. Hast du deinen Führerschein dabei?“
„Ja, in meiner Tasche, aber …“ Pearl hielt kurz inne. „Ich habe Wein getrunken zum Lunch.“
„Rachel auch, aber genau wie du nur ein kleines Glas“, meinte Bryn. „Gibt es vielleicht einen anderen Grund, warum du nicht fahren sollst und von dem du mir nichts erzählt hast?“
„Nein“, sagte sie widerstrebend. „Nicht mehr.“
Bryn ließ nicht locker. „Was soll das heißen? Wenn du krank warst, warum hast du mir dann nichts davon gesagt?“
Pearls Überraschung wirkte nicht gespielt. „Ich war nie krank. Nicht richtig jedenfalls. Der Arzt meinte, ich sei ziemlich fit für mein Alter.“
„Und warum hat er mir dann gesagt …“ Bryn stockte.
„Was hat er gesagt?“, wollte Pearl wissen. Als sie die blauen Augen misstrauisch zusammenkniff, entdeckte Rachel zum ersten Mal eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Mutter und Sohn. „Er hatte kein Recht dazu.“
„Es war ja nichts“, erklärte Bryn hastig. „Er schien nur besorgt.“
„Ach, um Himmels willen!“, rief Pearl aufgebracht. „Ich war einfach am Ende, weil dein Vater gestorben war. Als ob das nicht jedem so gehen würde. Und ich war müde und nicht in der Lage, aus eigenem Antrieb etwas zu tun.“ Bryn nickte, weil er sich noch genau daran erinnerte.
„Ein halbes Jahr später hat er mich noch mal untersucht. Körperlich war alles in Ordnung. Er wollte mir Antidepressiva verschreiben, aber ich habe abgelehnt. Mir geht es wirklich gut.“
Rachel stieß die Luft aus. Sie war genauso erleichtert wie Bryn. „Aber er meinte doch, dass du Medikamente brauchst …“, warf er trotzdem stirnrunzelnd ein.
„Ich brauche keine“, entgegnete Pearl störrisch. „Ich habe es auch so überstanden.“
„Wenn das so ist“, meinte Bryn, „könntest du ja auch fahren, oder nicht?“
6. KAPITEL
Rachel stimmte Bryn insgeheim zwar zu, überlegte aber dennoch, ob es klug von ihm gewesen war, auf dem Thema zu beharren.
Pearls Blick schweifte umher, als ob sie eine Antwort suchen würde, und meinte schließlich: „Ich mag
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