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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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blaugrünliches Glühen war zu einem schwachen, stumpfen Crème de menthe verblaßt. Aber am schlimmsten und am erschreckendsten war ihr Haar. Es war grau geworden, grau wie das einer alten Vettel, und es fiel büschelweise aus. Wie er sie jetzt so betrachtete, bemerkte er, daß ihre Kopfhaut im Licht der Kronleuchter schimmerte wie poliertes Leder.
    Sie lächelte. »Sehr gut. Großartig. Ich habe Porträts von Dr. Kellogg und Mr. Hart-Jones gemacht. Und ich würde wahnsinnig gern eins von Ihnen machen – nur eine Kohleskizze, nichts Ausgefeiltes. Wollen Sie nicht mal Modell für mich sitzen?«
    Modell für sie sitzen? Natürlich wollte er das. Selbstverständlich. Will fühlte sich geschmeichelt, und unwillkürlich setzte er sich ein bißchen aufrechter hin und vergaß für eine weitere wertvolle Sekunde das Verhängnis, das über ihm schwebte.
    Badgers Stimme, ein natürliches Reizmittel, das die Ohren verätzte, drängte sich plötzlich wieder auf. »Und ich schäme mich für Sie, Mrs. Lightbody, dafür, daß Sie Leder tragen«, krächzte er. »Ich schäme mich und bin enttäuscht. Selten habe ich eine Frau getroffen, die über unser Anliegen so gut informiert ist, sich so dynamisch dafür einsetzt. Aber Sie müssen sich wirklich mit allen Aspekten des vegetarischen Ethos anfreunden, dürfen keinen vernachlässigen. Nur dann sind Sie in der Lage, vollständige physiologische Harmonie zu erreichen.«
    Will blendete ihn aus. »Es wäre mir eine Freude«, sagte er zu Miss Muntz. »Nach, nun …« Er zögerte. Würde er für sie Modell sitzen können? Würde er atmen und Raum einnehmen? Er hatte eine Vision von Miss Muntz, wie sie sich wie eine Norne über ihn beugte und ihre kalten Finger auf die leblose Maske seines Gesichts drückte. »Ich werde heute operiert.«
    »Ach, Sie auch?« rief sie. Sie schien seltsam aufgeregt. »Sie und Mrs. Tindermarsh am selben Tag. Also« – sie holte tief Luft –, »da gratuliere ich aber.«
    Will sah sie verwirrt an.
    »Sie werden bald wieder gesund sein, das will ich damit sagen. Ist das nicht wunderbar?« Sie klatschte wie ein Kind in die Hände, faltete sie und knabberte gedankenverloren an ihren blassen grünen Fingerknöcheln. In ihrem gesundheitlichen Niedergang hatte sie, beseelt von dem verzweifelten Wunsch, gesund zu werden, bei fortschreitend radikaleren Kuren Zuflucht gesucht, und vielleicht waren dabei ihre Wertvorstellungen ein bißchen verzerrt worden. Jetzt unterzog sie sich einer von Dr. Kelloggs neuesten und – wenn man seiner marktschreierischen Eigenreklame glauben mochte – wirksamsten Behandlungsmethoden für Bleichsucht und eine Unzahl anderer Krankheiten, von Erysipelas über Fettleibigkeit bis zu eingewachsenen Zehennägeln: Sie inhalierte Radiumstrahlen. Radium war, soweit Will wußte, eine Art Stein, der heilende Strahlen oder Vibrationen abgab. Die Curies hatten es, neben Polonium, entdeckt und in Anerkennung ihrer Verdienste bei der Isolierung dieser wunderwirkenden Substanz 1903 den Nobelpreis erhalten. Dr. Kellogg hatte sich sofort darauf gestürzt. Ein Stein. Ein heilender Stein. Es klang fast heidnisch.
    »Ja«, stimmte Will zu, dem angesichts von Miss Muntz’ lächelnden leberfarbenen Lippen unbehaglich zumute war. Er würde unters Messer kommen, aber er machte gute Miene zum bösen Spiel und erwiderte ihr Lächeln. »Das wird wunderbar sein. Mrs. Tindermarsh und ich werden das Tanzbein schwingen und den Kotillon anführen … Aber nicht heute nachmittag, fürchte ich. An Lincolns Geburtstag – stellt Sie das zufrieden, Miss Muntz?«
    Miss Muntz lächelte vergnügt, die Vorstellung der breitschultrigen Mrs. Tindermarsh in Wills Armen brachte ihre gespenstisch gelben Augen kurz zum Leuchten. Sie war krank. Entsetzlich krank. Will stand abrupt auf. »Eleanor«, verkündete er und unterbrach seine Frau mitten in einer Anekdote über Lucy Page Gaston, die Anti-Tabak-Kreuzzüglerin, für die sie im Bahnhof von Peterskill eine Versammlung organisiert hatte, »wir müssen jetzt gehen.« Er bedachte Badger mit einem ärgerlichen Blick. »In weniger als drei Stunden werde ich mich einer Operation unterziehen.«
    Badger schnaubte verächtlich, machte eine herabsetzende Bemerkung über Dr. Kellogg und sein chirurgisches Geschick und winkte dann mit der Hand zum Zeichen, daß sie entlassen sei. Eleanor stand pflichtbewußt auf, um ihren Mann zu begleiten. »Es war ein Vergnügen, sich mit Ihnen zu unterhalten, Lionel«, sagte sie, »und zudem

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