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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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streichen, er blickte in ihr sonnengebräuntes Gesicht, er atmete ihren warmen Duft ein, und er empfing den Blick aus ihren schwarzen Augen, der ihn von Kopf bis Fuß mit einem tiefen, nach außen drängenden Lustgefühl erfüllte, wie einen Lanzenstich. Als sie ihn während des spannungsgeladenen Moments, da ihre Schenkel und Brüste ihn berührten, anlächelte, sodass er das mondhelle Blitzen ihrer großen, vollendet ebenmäßigen Zähne gewahrte, und als sie, sei es im Scherz oder herausfordernd, in einer unfreiwilligen Bewegung oder aus einer Erinnerung heraus ihren Unterleib für kurze Augenblicke gegen seinen presste, da wurden Hardesty die Knie weich vor quälender Lust. Mit einem seltsamen Aufschrei, in dem sowohl Enttäuschung als Befriedigung lagen, glitt er zu Boden.
    Praeger, der ihn aus den Augen verloren hatte, suchte ihn. »Wo bist du?«, fragte er. »Wo willst du hin?«
    Hardesty kroch unten am Boden auf allen vieren ihren Waden nach, die im Begriff waren, in einem finsteren Wald aus behosten Männerbeinen zu verschwinden. Die Leute an der Bar hatten nicht viel für das Gekrabbel zu ihren Füßen übrig. Es machte sie nervös, und als Hardesty gar anfing, andere Leute grob beiseitezustoßen, wusste Praeger, dass sein Freund in ein Hornissennest gefasst hatte.
    Schon war die Schlägerei in vollem Gange. Mann kämpfte gegen Mann, als wollte jeder bei steigender Flut den letzten Platz in der Arche erobern. Der Szenerie mangelte es nicht an einer gewissen Poesie, denn Männer flogen in parabelartigen, schwanenhalsgleich geschwungenen Bögen durch die Luft und stießen dabei tiefe Angstschreie aus. Insgesamt war es jedoch lediglich ein Ausbruch abendlicher Anarchie, wie er sich im September so häufig ereignete. Hardesty hatte Glück, dass sein resoluter Freund ihn mitten durch die Saalschlacht schleppen und durch die Tür ins Freie bugsieren konnte.
    »Wo ist sie?«, fragte Hardesty mit bettelnder Stimme. Praeger schleifte ihn zum ehemaligen Endbahnhof der Erie-Lackawanna-Bahn, einem Gebäude, das etwas von der Eleganz einer selbstbewussten alten Dame ausstrahlte. Es bestand aus cremefarbenem Stein und lackiertem Eisen und war völlig menschenleer. Die beiden Männer stolperten durch dunkle Gänge, bis sie auf der anderen, dem Fluss zugekehrten Seite die Laderampe der längst eingestellten Barclay-Street-Fähre erreichten. Sie gingen bis zum Ende der Rampe, setzten sich hin und baumelten über dem Wasser mit den Beinen.
    Auf der anderen Seite des Stromes schimmerte Manhattan im Mondlicht. Auf einer Länge von mehreren Meilen glitzerten die hohen Gebäude wie ein Wald voller Leuchtkäfer. Hardesty war mit seinen Gedanken noch immer bei der Kellnerin, aber Praeger saß da und starrte über das Wasser wie ein wütender Hund. Manhattan, ein Käfig mit weißem Gerippe, eine Masse aus blitzendem Kristall, wirkte fast lebendig. Die dieser Stadt innewohnende Schönheit hob die beiden Betrachter weit über ihre Feinde und ihre Kümmernisse in dieser Welt hinaus, und es war, als blickten sie aus der Warte der Toten auf das Leben hinab. Plötzlich durchströmte sie eine zärtliche Zuneigung zu den Menschen, die sie liebten, und sie sahen vor sich diese Stadt des Sonnenscheins und des Schattens, nun von Mondlicht übergossen, und sie liebten sie so sehr, dass es sie drängte, sie mit den Armen zu umfangen.
    Während sie noch schauten, zog von Nordwesten her eine riesige Wolkenfront herauf. Weißer als Eis und sanft funkelnd wie ein Gebirgsdorf in der Schweiz, schien die Stadt sich nicht im Geringsten um den schwarzpurpurnen Wall zu kümmern, der sich ihr näherte. Hardesty dachte an mittelalterliche Städte, die den Mongolen und Türken in die Hände gefallen waren. Hätte es etwas genutzt, dann würde er eine Warnung gerufen haben. Die bleichen Gebäude wirkten so verwundbar wie Zuckerwatte, und immer näher kamen die Wolken heran, mit weit ausladenden Wölbungen wie die Gesäße von Schlachtrössern oder die Schulterpanzerung einer Rüstung. Wie Schlangen aus ihrem Nest züngelten aus ihnen silbrige und weiße Blitze hervor und schlugen kurz vor der heranbrausenden Kavalkade in den Boden.
    Als die erste Welle über New York hereinbrach, machte der Sturm den Hudson zu einem unpassierbaren Strom. Die an Stahltrossen aufgehängte Rampe, auf der Hardesty und Praeger saßen, begann zu wackeln und zu schaukeln, aber die beiden klammerten sich an die Schienen, denn sie konnten sich nicht vom Anblick der Stadt losreißen.

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