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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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eifersüchtig.
    Wenn die Nacht hereinbrach, war Peter Lake oft hungrig und durstig. Dann ging er zum Times Square, um sich Papaya-Saft zu kaufen. Er liebte ihn, weil er sich beim Trinken so vorkam wie alle anderen Leute, beispielsweise ein Geschäftsmann oder eine Krankenschwester. Vielleicht hatte er um dieses Gefühles willen zwischen sich und dem Papaya-Saft ein fast unüberwindliches Hindernis geschoben. Unterwegs auf der Straße übte er nämlich mit voller, wohltönender Stimme, um die ihn der beste professionelle Ansager beneidet hätte, die Worte ein, mit denen er den Saft bestellen würde. Es erübrigt sich wohl der Hinweis, dass sein lautes Gerede inmitten der abendlichen Menschenmengen seinem Ruf auch nicht mehr schadete als die Zwiegespräche mit Briefkästen, Gasflaschen und Seitenwagen von Motorrädern. Aber wer hatte in New York schon einen Ruf zu verlieren?
    »Ich möchte einen großen Papaya-Saft zum Mitnehmen«, sagte er. »Ich möchte einen großen Papaya-Saft zum Mitnehmen. Ich möchte einen großen Papaya-Saft zum Mitnehmen. Ich möchte einen großen Papaya-Saft zum Mitnehmen …«
    Das sagte er tausendmal, doch als Peter schließlich den Papaya-Ausschank erreichte, hinter dem ein träger, mit Saft bespritzter Mensch bediente, da hakte sein Verstand vollends aus.
    »Was willst du?«, fragte der unordentliche Kerl hinter der Theke.
    Statt zu antworten, begann Peter Lake zu kichern, zu lachen und zu schnauben. Halbunterdrückte Schreie brachen aus ihm heraus, er verdrehte hysterisch die Augen und schwankte dabei hin und her, bis sein Gelächter nur noch aus einer Reihe wilder Quietscher und einem Bellen bestand. Nur mit Mühe konnte er sich auf den Beinen halten. Immer wieder waren es solche Anfälle, die ihn um den Papaya-Saft brachten.
    Irgendwann hatte er sich wieder in der Gewalt. Er musste mit dem Lachen aufhören, weil ihm die Lungen und der Bauch schmerzten. Er öffnete die Augen und rausperte sich. Aber als er sah, dass der Papaya-Mann argwöhnisch ein Auge zukniff, brach ein atemloses Kreischen aus ihm hervor, das sich seines ganzen Körpers bemächtigte.
    Auf dem Rückweg zur Stadt der Armen wurde er die ganze Zeit von hysterischem, schmerzhaftem Lachen geschüttelt. Er betrat ein verlassenes Mietshaus, ging in den Keller hinunter und streckte sich schluchzend auf einem Kohlensack aus. Aber er brauchte nicht lange zu weinen, denn die Erschöpfung erlöste ihn und stieß ihn tief ins Vergessen.
    In der Nacht, als auf den Straßen Ruhe eingekehrt war und sich der Oktobermond anschickte, in die Wälder von Pennsylvanien hinabzusteigen, fuhr Peter Lake plötzlich aus dem Schlaf hoch. Er spürte, wie sein Herz vor Panik zu rasen begann. Irgendetwas hielt ihn von hinten umklammert. Sobald er wach genug war, um einen klaren Gedanken zu fassen, vermutete er, dass es drei oder vier Angreifer waren, die allesamt über enorme Kraft verfügten, und er machte sich innerlich auf die ausgesuchten Torturen gefasst, mit denen Menschen, die morgens um vier in den Keller eines verlassenen Wohnhauses eindringen, jene quälen, die schon vor ihnen da waren. Peter Lake konnte nur hoffen, dass sein Wahnsinn die Eindringlinge schreckte, nur fühlte er sich bedauerlicherweise bei vollem Verstand. Tatsächlich war er so klar im Kopf, so vernünftig und ruhig wie ein Diplomat, der irgendwo in der wildreichen Gegend nördlich von Boston vor einem knisternden Hickory-Feuer sitzt und an seinen Memoiren arbeitet.
    »Gentlemen!«, entfuhr es ihm, als es ihn mit Macht in die Höhe hob. Andere Worte des Protests kamen ihm nicht in den Sinn. Erstaunt über die absolute Stetigkeit, mit der er hochgehoben wurde, stellte er sich vor, dass die Ganoven, die ihn am Wickel hatten, olympische Gewichtheber waren. Er drehte seinen Kopf ein paar Zoll in alle Richtungen, aber es gelang ihm nicht, ihre Füße zu sehen. Auch ihr Atem war nicht zu hören, ja er fühlte nicht einmal ihre Hände.
    Zwar überstieg es nicht gänzlich die Möglichkeiten der hier ansässigen Verbrecher, bei der Ausübung ihres Gewerbes eine solche Zartfühligkeit walten zu lassen, dass sie es aber wirklich taten, war nicht sehr wahrscheinlich. Peter Lake versuchte, über die Schulter zu schauen, aber sie hatten ihn so fest im Griff wie ein Kätzchen, das man beim Nackenfell packt. Er räusperte sich und wollte seine Folterknechte erneut ansprechen, doch da bemerkte er, dass er sich inzwischen mit großer Geschwindigkeit durch den Raum bewegte. Die

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