Wintermaerchen
– er, der mechanische Maulwurf, der treue Beobachter, der Seelensammler, der gute Arbeitsmann.
*
Eines Tages Mitte Oktober schuf das Licht spät am Nachmittag in der West Fifty-Seventh Street jene vollendeten Verhältnisse, auf die sich schon die Kirchenmänner des Mittelalters stützten, als sie ihre Idee vom Himmelreich entwarfen.
Virginia kehrte gerade von einem Pier am North River zurück. Sie hatte dort einen bekannten Exilpolitiker interviewen sollen, woraus freilich nichts geworden war, denn der Mann war auf hoher See von dem Schiff geholt worden, in dem er reiste. Per Flugzeug hatte man ihn nach Washington gebracht. Virginia blieben noch einige freie Stunden, bis sie nach Hause musste, um die Kinder aus ihrem Nachmittagsschlaf zu wecken. Sie beschloss, auf der Fifth Avenue einen Einkaufsbummel zu machen. Abby fühlte sich seit ein paar Tagen nicht sehr wohl. Wahrscheinlich lag das am Wechsel der Jahreszeiten. Immerhin schlief sie laut Aussage von Mrs Solemnis gut und hatte kein Fieber.
Virginia brauchte einen Wintermantel. Selbst für eine Gamely war sie ziemlich hoch gewachsen und hatte eine entsprechende Kleidergröße. Kombiniert mit der tief in ihr verwurzelten Sparsamkeit bedeutete dies, dass sie sich wahrscheinlich wieder schwertun würde, bevor sie einen Mantel fand, der sowohl warm genug für den Coheeries-See als auch von annehmbarem Schnitt war. Seit Jahren hatte sie ihre Mutter nicht gesehen. Sie wusste genauso gut wie Hardesty, dass ihr Heimatort nur mit großen Schwierigkeiten zu erreichen war und dass es von dort vielleicht nie ein Zurück gab. Hardesty war willens, notfalls Bauer am See zu werden, die Winter auf Skiern und in Eisseglern zu verbringen und viele Meilen per Schlittschuh zurückzulegen, von Dorf zu Dorf und von Gasthaus zu Gasthaus.
Sie hatten vor, im Dezember oder Januar bei günstigen Witterungsverhältnissen aufzubrechen. Die Kinder wollten sie in Wolle, Daunendecken und Pelze hüllen und mit ihnen in aller Frühe in den Zug steigen, wenn der Rauch aus den wenigen in der Stadt noch existierenden Kaminen spindeldürr und gerade in der kalten Luft stand wie wartende Totengräber vor einer Kirche. Dies waren zumindest ihre Pläne, aber da sie schon in vielen vergangenen Wintern Ähnliches geplant hatten, ohne dass es jemals zu einer Abreise gekommen wäre, hatten diese Pläne schon etwas von Träumen. Jedes Jahr im Winter wollten sie zum Coheeries-See fahren, aber immer geschah etwas, das sie zwang, die Reise um ein weiteres Jahr zu verschieben.
Als sie an der Carnegie Hall vorbeikam, sah Virginia, dass eine Menschenmenge zu einem Konzert in das Gebäude strömte. Mehrere Plakate verkündeten, dass das berühmte Orchester von Canadian P. – so lautete sein voller Name – an jenem Abend die Amphibologischen Grillentänze von Mozart spielen würde. Allerdings war das gemischte Programm so gestaltet, dass man kaum zu sagen wusste, was wozu gehörte, und möglicherweise handelte es sich um das Divertimento in c-Moll von Mozart und die Amphibologischen Grillentänze von Minoscrams Sampson. Das schien auf jeden Fall einleuchtender. Virginia wollte gerade weitergehen, als genau vor ihr, schnell und rund wie ein Quecksilberball, jenes fette, schlitzäugige Wesen, das sich Mr Cecil Wooley nennen ließ, die Außentreppe der Carnegie Hall hinaufhüpfte. Zweifellos hat Jackson Meads Quintett in seinem Repertoire keine Amphibologischen Grillentänze, sagte sie sich. Anscheinend gelüstet es den jungen Mr Wooley nach leichterer Kost, und er hat sich wie ein Wiesel davongeschlichen, um dieses Konzert zu besuchen. Er benimmt sich wie ein Ausreißer, so viel steht fest, und er hat etwas von einem Schuljungen, der mit rollenden Augen beteuert, er sei nur in die Damensauna geraten, weil er ein Schild nicht beachtet habe.
Virginia stürzte in die Vorhalle. Der Dicke hatte gerade eine Eintrittskarte gekauft und machte sich auf den Weg zu einer der Emporen. »Sehen Sie dort den fetten Kerl?«, sagte Virginia zu dem Kartenverkäufer und zeigte auf Cecil Mature, kurz bevor er durch eine Tür verschwand. »Geben Sie mir einen Platz direkt hinter ihm.«
»Aber Miss!«, protestierte der Kartenverkäufer. »Ich müsste Ihnen Platz 46 auf der Empore Q geben, und das ist der schlechteste Platz im ganzen Haus. Sofern Ihre Mutter keine Eule und Ihr Vater kein Habicht war, sehen und hören Sie dort nicht das Geringste.«
»Was erdreisten Sie sich!«, erwiderte Virginia. »Sagen Sie das noch
Weitere Kostenlose Bücher