Wintermaerchen
nicht über mich.«
Das Hotel Lenore hatte eine superelegante Bar, die von Leuten besucht wurde, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich dort wichtig zu fühlen. Immerhin gab es dort die besten Eiscreme Sodas weit und breit.
»Schau dir die schöne Dame mit dem dicken schlitzäugigen Kerl an!«, sagte einer der Barkeeper zu einem Kollegen. »Was wohl eine Klassefrau wie sie an so einem Vollgummiball findet?«
»Keine Ahnung«, antwortete der andere Barkeeper. »Manche Weiber mögen eben einen verrückten Salat zum Fleisch.«
Cecil, der auf seinem Barhocker thronte wie ein Globus auf einer Siegessäule (ein Vergleich, der vom architektonischen Standpunkt durchaus korrekt ist), war von einem ungewohnten Maß an Selbstbewusstsein durchdrungen, aber er fühlte sich trotzdem alles andere als wohl in seiner Haut.
»Zwei Ingwer-Schokoladencreme-Sodas«, sagte Virginia, »Und bitte sehr, sehr, sehr viel von der speziellen Zutat.« Die spezielle Zutat war Rum.
Eiscreme Sodas zum Stückpreis von fünfundsechzig Dollar sollten nicht auf sich warten lassen, und das taten sie auch nicht. Schon standen zwei eimergroße Bakkarat-Kübel mit Platinlöffeln und goldenen Strohhalmen vor ihnen. Cecil wusste nicht, wie ihm geschah. Er dankte Virginia und ergriff den Strohhalm, aber nach einem halbherzigen Schluck drehte er sich zu ihr hin und meinte: »Es schmeckt gut, wirklich gut, aber es ist etwas drin, das mich an Tetrahydrozalin erinnert.«
»Das ist der Ingwer«, sagte Virginia und führte den Strohhalm an ihre schönen Lippen.
Anfänglich zögerte Cecil noch, aber dann machte er sich ans Werk. Während Virginia die geeiste Schokolade nur in winzigen Schlückchen zu sich nahm, bewies Cecil Talente, die Mussolini bei der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe hätten helfen können. Wie eine erstklassige Drehkolbenpumpe summte er vor Arbeitseifer, und obwohl die Bakkarat-Kübel, in denen im Lenore Sodas serviert wurden, unten einen speziellen siebartigen Einsatz hatten, um am Schluss Schlürflaute wie »Arrrtsch!« und »Orrrtsch!« zu vermeiden, stellte Cecil, als er den Grund des Pokals erreichte, den Sinn dieser klugen Vorrichtung infrage. Sein »Arrrtsch!« und »Orrrtsch!« klang wie der Bimssteinhagel nach einem Vulkanausbruch. Er lehnte sich ein wenig zurück und richtete seine glasigen Augen auf Virginia. In nur fünf Minuten hatte er eine ganze Gallone geschluckt, und der glasige Blick war einem Viertelliter Rum zuzuschreiben. Virginia hatte ihn da, wo sie ihn haben wollte.
Allerdings hatten die kleinen Schlückchen ihr selbst ein wenig den Blick getrübt. Ihre Phasenverschiebung im Verhältnis zur restlichen Welt reichte genau dazu aus, Cecil fest in die Augen zu blicken und ihm all das zu entlocken, was es ihn zu sagen drängte. Es gelang ihr dann doch nicht, ihm richtig in die Augen zu sehen, denn seine Augen zu sehen war ungefähr so schwierig, als wollte man herausfinden, welche Bücher ein paar Soldaten in einem feindlichen Maschinengewehrnest lesen.
»Da war irgendein Zeug in dem Soda, stimmt’s?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Ein Viertelliter Rum«, antwortete sie.
»Ein Drittel«, berichtigte der Barkeeper im Vorbeigehen.
»Mein Gott!«, sagte Cecil mit einem Anflug von Ärger. »Warum mussten Sie das tun?« Er hieb mit der Faust in die Luft. »Aber was soll’s! Viel Feind, viel Ehr.«
»Wie meinen Sie das?«, erkundigte sich Virginia.
»Weiß nicht. Manchmal trinke ich zum Abendessen ein Glas Wein. Ich finde, dass mir das Essen dann besser schmeckt. Es klärt den Gaumen, fördert die Verdauung und macht mich betrunken. Aber dies hier! Ich weiß gar nicht, was ich tun soll. Wie lange dauert es, bis man sich von einem Drittelliter Rum erholt hat?«
»Eine halbe Stunde.«
»Oh, dann ist es nicht so schlimm. Die Sache ist nur, dass ich mich so wunderbar fühle. Was ist, wenn Pearly plötzlich hereinkommt? Peter Lake ist nicht mehr da, um mich vor ihm zu schützen.« Seine Augen waren plötzlich ganz trübe, und sein Mund verzog sich in abgrundtiefer, urtümlicher Traurigkeit.
»Wer war Peter Lake?«, wollte Virginia wissen. Der Name kam ihr irgendwie bekannt vor.
Inzwischen rannen Tränen über Cecils Wangen, und es dauerte mehrere Minuten, bis er sich wieder gefangen hatte. »Ich erinnere mich noch genau an damals«, sagte er. »Wir hausten in Wassertanks und auf Dächern. Manchmal nahmen wir unter falschem Namen in einer Schmiede oder in einer Werkstatt eine Arbeit an. In puncto Qualität
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