Wintermaerchen
konnte uns niemand das Wasser reichen. Mootfowl versteht mehr von dem ganzen Zeug als irgendein anderer Mensch auf der Welt, und er war unser Lehrer. Und wir fanden dauernd Arbeit. Manchmal übernahm ich auch kleine Tätowier-Aufträge. Unsere gesamte Habe trugen wir in einer dieser kleinen Taschen herum, wie sie die Maurer benutzen. Das Wetter war herrlich, der Himmel immer wolkenlos. Und wenn es mal regnete, gingen wir zu einer von Peter Lakes Freundinnen. Bei Minny waren wir besonders oft. Ich schlief immer im Nebenzimmer und hörte die Matratze quietschen, wenn Peter bei ihr im Bett war. Ich fand das ganz in Ordnung. Wenn ich zu eifersüchtig wurde, ging ich auf den Markt, und wenn ich dann zurückkam, um uns was zu kochen, waren sie längst fertig. Dann setzten wir uns alle zusammen an den Tisch und aßen Kürbis. Den kochte ich recht gut. Meinetwegen hätten wir die ganze Zeit Kürbis essen können, aber Peter Lake wollte Roastbeef, Ente und Bier. Deshalb gingen wir manchmal auch zum Essen aus. So fing der ganze Mist an, genauer gesagt an dem Tag, als Pearly einen Apfel nach mir warf.«
Virginia fühlte sich ratlos. Was Cecil da erzählte, klang wie aus einer anderen Zeit, aber trotzdem wahr. Dabei war der Bursche doch so jung! Sie wollte unbedingt noch mehr herausfinden. Doch als sie ihm weitere Fragen stellen wollte, wurden die Türen des Lenore von livrierten Lakaien aufgestoßen, und hereinstolziert kam, begleitet von einem riesigen Gefolge aus Schmarotzern und Speichelleckern, Craig Binky.
Ihr Auftritt vollzog sich wie nach den Regieanweisungen auf einer Opernbühne: Auftritt von links: Craig Binky und eine Gruppe junger aristokratischer Lebemänner, die gutgelaunt und mit geröteten Gesichtern von der Jagd heimkehren. Sie umringten Virginia und Cecil, besetzten alle umstehenden Barhocker und Bänke, und begannen auf Französisch sämtliche Gerichte für zweihundertfünfzig Dollar und sämtliche Drinks für hundertfünzig Dollar zu bestellen.
»Ich sagte zu dem Premierminister«, deklamierte Craig Binky ins Blaue hinein, »sein Land brauche nichts weiter als den Binky-Touch. Mit über einer halben Milliarde Einwohnern, ohne natürliche Ressourcen und einem Pro-Kopf-Einkommen von fünfunddreißig Dollar per annum müsse er sich darauf gefasst machen, dass er eines Morgens beim Aufwachen tief in der Patsche sitzt. Das habe ich, Craig Binky, dem Anführer all dieser Millionen gesagt! Und wisst ihr, was er wissen wollte? Ich werde es euch sagen. Am meisten interessierte es ihn, von mir zu hören, wie man ein Nummernkonto in Zürich eröffnet. Hat der Mensch Töne! Der Mann war ein Heiliger. Trotz der riesigen Probleme seines eigenen Landes wollte er unbedingt der winzigen Schweiz helfen!«
Virginia zerrte Cecil aus dem Lokal, was kein einfaches Unterfangen war, denn er redete unablässig weiter, obwohl sie ihn nicht verstehen konnte. Erst als sie ihn draußen auf dem Bürgersteig hatte, nahm sie den unterbrochenen Gesprächsfaden wieder auf.
»… und nachdem das passiert war, musste ich gehen. Bald darauf verschwand auch Peter. Es kam für uns alle überraschend, zumal Jackson Mead davon überzeugt war, dass er eines Tages der ewige Regenbogen sein würde, der richtige, der kein Ende hat. Aber er verschwand einfach mit dem Pferd. Ich sagte: Peter Lake kennt die Stadt besser als jeder andere. Er kann untertauchen, solange er will. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, hat alles keinen Sinn. Die Zeit ist noch nicht reif, schätze ich. Ich habe ihn geliebt«. Cecil schloss seinen Bericht ohne Tränen, aber mit Überzeugung: »Er war wie ein Bruder zu mir. Er hat mich beschützt. Und er hat nie erfahren, wer er eigentlich ist.«
*
Hardesty schaute zu, wie ein pfeifender Wind draußen auf dem Wasser weiße, bauschige Schwaden aus der schweigenden Masse des Nebels zupfte und vor sich her auf die Stadt zutrieb. Da San Francisco von der kalten See umgeben ist, können die Ozeanwinde die Stadt willkürlich und wann es ihnen beliebt, zu Bett schicken und die Ansprüche des Nordpazifiks anmelden. Dann stürzen sie die Stadt unter ihrem blauen Himmel in die Vergessenheit einer weißen Nebelwelt und ritzen scharfe Linien in die stille Fläche der Bucht.
Von seinem Hotelzimmer im fünfzigsten Stockwerk konnte Hardesty die Stadt seiner Geburt fast in ihrer Gesamtheit überblicken. Er sah sein Elternhaus auf den Presidio Heights, weit und breit das höchste Gebäude, weiß wie ein Gletscher. Vor dem Hintergrund der grünen
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