Wintermaerchen
Wälder hob sich der Turm, in dem sich das Arbeitszimmer befand, klar und deutlich ab. Während der heraufziehende Nebel das Haus umzingelte, sodass es hoch und unbenetzt auf einer weißen Flut in der Luft zu schweben schien, fragte sich Hardesty, ob diese sanften Wolken, die sich zwischen Raum und Zeit schoben, wohl auch ein Nachsehen mit ihm haben würden. Ob sie es ihm gestatten würden, sich selbst und seinen Vater an einem langen Holztisch sitzen zu sehen, er, Hardesty, in einem alten Buch blätternd und neben ihm sein Vater, der ihm den verzwickten Inhalt erklärte. Solche vergangenen Begebenheiten, die das Fundament unseres Daseins bilden, müssen doch irgendwo aufgehoben sein, dachte er. Es müsste möglich sein, sie zurückzuholen, und sei es auch nur in einer Welt der Vollendung. Wie viel Gerechtigkeit läge darin, wenn unsere letzte Entlohnung darin bestünde, dass wir zu Herren der Zeit gemacht werden, sodass jene, die wir lieben, nicht nur in unserer Erinnerung, sondern tatsächlich auferstehen.
Ein Licht leuchtete im Turm des Hauses auf und schien für kurze Augenblicke durch die Finsternis herüber, bevor der Nebel das Haus der Marrattas für den Rest der Nacht verschluckte. Hardesty empfand Sehnsucht und Schmerz, denn er vermutete, dass das Licht, das ihm über den Nebel hinweg zugewinkt hatte, eine von den Zwängen der Zeit unberührte, lebendige Präsenz gewesen war.
Als Jackson Mead von einem »ewigen Regenbogen« gesprochen hatte, war Hardesty in die Vergangenheit zurückversetzt worden. Er hatte nur noch an den Pazifik und die vom Nebel getränkten Wälder an den Hängen denken können. Er fühlte, dass die Antwort auf das Rätsel irgendwo zwischen den Pinien des Presidio lag, wo er die Hälfte seiner Kindheit verbracht hatte, als lebte er nicht in einer Stadt, sondern in einem abgelegenen Gebirge. Um sich dem Ruf der Vergangenheit zu stellen, hatte er einen Flug und ein Hotelzimmer gebucht. Abgesehen von einem kurzen Besuch am Grab seines Vaters (wo er seinen Bruder Evan mit Sicherheit nicht antreffen würde), ging es ihm bei seiner Reise nach San Francisco einzig und allein um den Versuch, auf dem Presidio zwei Worte aus Jackson Meads Mund zu dechiffrieren.
Am darauffolgenden Tag durchquerte er die Stadt und wanderte im klaren Licht nordwärts, bis er die ihm so vertrauten Wälder erreichte. Die Sonne verschwand. Nebel drängte sich zwischen den Stämmen der Bäume hindurch wie ein ganzes Heer weißhaariger Zauberer, zischte und sang wie verstimmte, misstönende Harfen. Bald trennten Dunst und Schatten Hardesty von der hinter ihm liegenden Welt. Er befand sich in einem schier endlosen Hain aus zierlichen Bäumen. Er lief eine Weile lang den treibenden Schwaden entgegen, bis er schließlich die Bäume aus den Augen verlor und auch den Boden unter seinen Füßen nicht mehr erkennen konnte. Er überquerte ein Stück weiches Heideland und merkte plötzlich, dass er am Rand eines Kliffs hoch über dem Meer stand. Zwar konnte er in dem weißen Geflimmer nichts erkennen, aber die Geräusche und die Gischt waren beredt genug. Das Brüllen der See wurde so laut, dass Hardesty sich aus Furcht, das Gleichgewicht zu verlieren, auf die Knie niederließ. Der pfeifende Wind drückte ihn zu Boden, als schlügen Wellen über ihm zusammen. Der flache Grund, auf dem er kauerte, schien wie ein Teller durch die Luft zu wirbeln. Hardesty presste sich flach auf den sandigen Boden, die Finger ins Heidekraut verkrallt, und wähnte sich in Sicherheit. Von Nebel umhüllt, überließ er sich erschöpft und benommen dem Schlaf.
In seinen Träumen war Hardesty Marratta schon oft genug im Himmel gewesen. Diese Träume waren eine Kombination aller Breughel’schen Gemälde, und sie bestanden aus Zentren schwellender Farben, die sich um ihre eigene Achse drehten. Doch obwohl sie alles andere als das Werk von Amateuren waren, wurden sie nun, als Hardesty langsam aufwärtszuschweben begann, überboten. Eine Zeitlang sah er nichts, dann verschwand der Nebel, und die Luft wurde klar wie Äther. Er fand sich in einem Haus aus Holz und Glas wieder, hoch über einem blauen See. Anfänglich wusste er nicht, wohin er gehen oder was er tun sollte, doch schon näherte sich ihm eine Frau, das heißt, sie glitt, ja sie flog sogar auf ihn zu, eine Frau, deren Haar anmutig und geschmeidig im Wind wehte, als wäre es für Luft und Bewegung geschaffen. Sie streckte ihre Hände aus und führte ihn, ohne den Boden mit den Füßen zu
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