Wintermaerchen
müssten nicht in die Knie gehen, um in den Himmel zu kommen, sondern könnten dort eines Tages hocherhobenen Hauptes in irgendeinem Gefährt vorfahren.
Der weiße Hengst unter dem Querbalken hielt nun schon seit über vierzehn Monaten durch. Er hatte mehrere Herren überdauert und viele Fluchtmöglichkeiten ausgeschlagen. Wie in Trance lief er im Kreis herum und büßte dabei allmählich sein Zeitgefühl ein. Er begann zu glauben, dass er für alle Zeiten eine Feder aufzuziehen hatte und dass schon vor ihm andere, die wie er von gestirnten Weidegründen stammten, zu dieser langwierigen Arbeit angelernt worden waren. Wie in einer Mühle, die das Salz des Meeres mahlt, durfte der Querbalken nicht stillstehen. Bald ist alles vorüber, sagte sich der weiße Hengst, fest entschlossen, den Kampf bis zum Ende durchzustehen. Bis zur Selbstaufgabe rackerte er sich unter dem Balken ab, damit er bald dorthin zurückkehren konnte, woher er gekommen war. Unablässig stapfte er im Kreis herum und weigerte sich zu sterben.
Manchmal erschienen Köpfe über dem Rand des Bretterzauns, der Athansor von einer für ihn unsichtbaren Gasse trennte. Das geschah zu den seltsamsten Stunden, denn in der Stadt der Armen gingen die Uhren anders; Begriffe wie Tag und Nacht hatten ihre Bedeutung verloren. Athansor wurde von Kindern begafft, aber auch von Trunkenbolden, die darüber zu staunen schienen, dass er die Kühnheit besaß, ein Pferd zu sein. Flüchtende Verbrecher oder solche, die gerade einen anderen Menschen um seine Geldbörse erleichtert hatten, lächelten ihm zu, als hielten sie ihn für einen der ihren. Sogar um vier Uhr morgens konnte es geschehen, dass Köpfe über dem Bretterzaun auftauchten, und nicht selten wurde Athansor von ihnen angesprochen. Vielleicht gingen diese Leute stillschweigend davon aus, er sei ein niederes Geschöpf, niederer als sie selbst, denn sie zeigten sich von ihrer schlechtesten Seite – grausam, vulgär und verwundbar, alles auf einmal. Das Teuflische an diesen Marionetten war die Belanglosigkeit all dessen, was sie sagten oder taten. Fast wünschte sich Athansor, hinter dem Zaun möge endlich einmal ein Kopf auftauchen, über den er sich ernsthaft Sorgen machen konnte.
Obwohl der Wunsch nie sehr intensiv gewesen war, wurde er ihm erfüllt. Im Oktober war es außergewöhnlich kalt, und alle wussten, dass ein Winter von apokalyptischer Strenge vor der Tür stand. Eines Nachts, als der Nordwind das Wasser in den Regentonnen mit einer Eisschicht überzog, spürte der Hengst, dass ihn jemand über den Holzzaun hinweg beobachtete. Vierzehn Monate lang hatte er nicht ein einziges Mal angehalten. Doch als er nun den Mann erblickte, der hinter der Bretterwand stand und zu ihm herüberschaute, erstarrte er mit schnaubenden Nüstern mitten in der Bewegung, und seine Augen begannen, wild zu rollen. Als wäre er nicht mit ledernen Riemen an den Balken geschirrt, stieg er wiehernd zu voller Höhe auf die Hinterhand, sodass das Zaumzeug zerriss und der Balken splitternd brach. Doch mochte er auskeilen, dass die Erde bebte – den Mann, der die Ellbogen auf den Zaun gestützt hatte, konnte er damit nicht erschrecken. Nein, der Eindringling lächelte sogar.
»Du weißt ja gar nicht, wie lange ich dich schon suche, Pferd«, sagte der Mann, spreizte vier Finger einer Hand und legte den Daumen auf die Innenfläche. »Endlich habe ich dich gefunden! Hoffentlich ist die Überraschung gelungen.«
Athansor riss sich von den Resten des verhedderten Zaumzeugs los und durchbrach krachend den Bretterzaun. Dabei rannte er nicht nur Pearly Soames selbst über den Haufen, sondern fast die gesamte armselige Truppe, die hinter ihm gestanden hatte.
»Warte nur, du marmorweißer Bastard!«, rief Pearly dem weißen Hengst hinterher, der in vollem Galopp ein Trümmergrundstück überquerte, zwischen abgestorbenen und zersplitterten Baumruinen hindurch. »Du wirst mich schon zu ihm führen!«
*
Am 20. Oktober schneite es. Es war zwar kein wütender Blizzard, aber auch keine hauchdünne Schicht Puderzucker. Der Boden war von knapp anderthalb Fuß pulvrig-weißen Neuschnees bedeckt, der nicht gleich wieder schmolz, wie es so früh im Herbst eigentlich zu erwarten gewesen wäre, sondern ungerührt liegen blieb, während ein lähmender Traum von absoluter Kälte aus Kanada herbeigeschwebt kam und den winterlichen Himmel in eine frostspröde blaue Kuppel verwandelte. Die Gerätschaften und Fahrzeuge der Räumkommandos waren noch nicht
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