Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
Schneestürme, deren Heulen die Herzen schneller schlagen ließen.
    Wenn wir uns schon belügen lassen müssen, dann suchen wir uns lieber gleich den besten Lügner aus, sagten sich die Leute – und da Praeger ihnen die von ihm angestrebten Verhältnisse so leidenschaftlich zu schildern vermochte, dass sie ihm mit klopfendem Herzen und weit aufgerissenen Mündern zuhörten, holte er langsam auf, und das zeigte sich auch in den Meinungsumfragen. Der Hermelinbürgermeister geriet in Panik und verbiss sich geradezu in Themen wie Müllabfuhr und Steuern. Praeger hingegen verfolgte standhaft seinen Kurs. Mit einem Charme, dem sich niemand entziehen konnte, zog er über seine Gegner her und betörte die Wähler mit Visionen von Gerechtigkeit und einer paradiesischen Welt.
    *
    »Wir können nicht zum Coheeries-See fahren, jedenfalls nicht heute. Die Straßen im Norden sind blockiert, und auch die Züge verkehren nicht, weil die Schneepflüge noch immer nicht einsatzbereit sind«, berichtete Hardesty, als er an einem winterkalten Oktobertag nach Yorkville zurückkehrte. Auf Skiern war er von Ort zu Ort gefahren, um Informationen einzuholen.
    »Was gehen uns die Züge an?«, antwortete Virginia nonchalant. »Und was interessiert es uns, ob die Straßen blockiert sind?«
    »Wie sollen wir denn sonst hinkommen?«
    Sie blickte ihn an, als wäre er ein Idiot, und sagte: »Mit dem Schlitten.«
    »Mit dem Schlitten?«
    »Ja! Wenn Schlitten für San Francisco nicht taugen, dann heißt das noch lange nicht, dass sie hier auch nichts nützen.«
    »Du hast dir wohl zu viele von Praegers Wahlkampfreden angehört. Ich möchte wetten, dass du sogar für ihn stimmen wirst.«
    »Natürlich werde ich das«, erwiderte sie. »Und du wirst es auch! Geh und besorge einen Schlitten. Ich mache inzwischen die Kinder reisefertig. Und vergiss nicht, dass wir auch ein Zugpferd brauchen und dass das Pferd Hafer, Heu und eine Decke braucht. Es kann mehrere Tage dauern, bis wir bei den Fteleys ankommen.«
    »Fteleys?«
    »Beeil dich!«, befahl Virginia.
    Hardesty kehrte in der Abenddämmerung mit einem schönen Schlitten zurück, dessen Kufen silbrig glänzten. Das Geschirr war noch ganz neu und weich. Vor den Schlitten war eine elegante, obsidianschwarze Stute gespannt.
    »Wir können jetzt nicht mehr aufbrechen«, sagte er zu Virginia. »In ein paar Stunden ist es dunkel.«
    »Und ob wir das können!«, erwiderte sie. »Nachts bei Vollmond, wenn die Welt weiß ist …«
    Abby hatte diese Unterhaltung heimlich mit angehört. Sie wollte vom Coheeries-See und von nächtlichen Schlittenfahrten überhaupt nichts wissen. Sie ging in die Küche, nahm fünf Brötchen und ein halbes Pfund Blockschokolade von einem Regal und zog sich in das oberste Fach des Wäscheschranks zurück. Dort wollte sie bleiben, bis die Schule wieder anfing.
    »Wo ist Abby?«, erkundigte sich Hardesty bei Martin.
    »Ich weiß nicht«, antwortete der Junge. Er wusste genau, wo sie war, aber er wollte das Versteck nicht verraten, weil er es selbst entdeckt hatte.
    Zwei Stunden lang suchten sie Abby wie von Sinnen. Zuerst dachten sie, sie sei vom Balkon gefallen, aber natürlich war sie das nicht. Sie gingen zu den Nachbarn, in die umliegenden Geschäfte, und sie schauten sogar im Wäscheschrank nach. Aber Abby hatte sich im obersten Fach hinter einem Schutzwall von Kissen verbuddelt und antwortete nicht, als Martin nach ihr rief.
    Irgendwann überkam sie der Hunger, und ihre Eltern schnappten sie, als sie mit einem frischen Laib Brot durch die Küche watschelte. Sie riss sich los, versuchte zu fliehen und schrie:
    »Ich will nicht wegfahren!«
    »Konnten wir dich deswegen nicht finden?«, schimpfte Hardesty.
    »Hast du dich etwa versteckt?«
    »Ich will nicht wegfahren!«, kreischte sie wieder und nahm unter dem Küchentisch Zuflucht, wo sie aufrecht stehen konnte, ohne auch nur den Kopf beugen zu müssen.
    »Tut mir leid, aber du musst mitkommen«, sagte ihr Vater und kauerte sich vor sie hin. »Nun komm schon raus! Wir müssen dir noch die Wintersachen anziehen. Und dann müssen wir los, sonst wird es zu spät.«
    »Nein!«
    »Du kommst sofort her, Abby!«, sagte er und schnippte mit den Fingern. Sie hatte furchtbare Angst, aber sie bewegte sich nicht vom Fleck.
    »Dann hol’ ich dich eben!« Es kostete ihn Überwindung, seine zornige Miene zu wahren, denn der Ausdruck auf ihrem Gesicht, das kleine, glockenförmige, gelbe Kleid und die weichen, tiefblauen Augen, die ihn so trotzig

Weitere Kostenlose Bücher