Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
zugefroren.«
    »Heh-ja!«, schrie Hardesty und zog mit einem leise schnalzenden Geräusch an den gut gefetteten Zügeln. Die Belmont-Stute schwenkte nach links.
    Auf dem Weg in die Flussniederung gerieten sie in noch tiefere Finsternis. Die Eulen und Adler waren hier zu Hause, und unheimliche, langgezogene Schreie hallten durch die Nacht. Das schwarze Pferd hatte es eilig. Am liebsten hätte es mit seinen Hufen gar nicht den Boden berührt, und es verfluchte die Glöckchen, welche die Position des Schlittens den kürbisköpfigen Geistern verrieten, die zwischen den Klippen hausten. Hardesty konnte sich nur an dem mattleuchtenden Streifen Himmel zwischen den Bäumen orientieren. Wieder und wieder blickten Pferd und Passagiere nach oben, um diese Schneise aus blassem Licht nicht aus den Augen zu verlieren, und hätte ihnen plötzlich eine Ziegelmauer den Weg versperrt, so wären sie mit voller Wucht dagegengefahren.
    Als sie das Ufer erreichten, erstreckte sich vor ihnen der zu einer breiten, weißen Fahrstraße gefrorene Fluss. Da die Stute wusste, dass das Eis sie tragen konnte, steuerte sie geradewegs darauf zu. An der Uferböschung flog der Schlitten sekundenlang durch die Luft, und als er mit einem Ruck aufsetzte, erwachten die Kinder. Hardesty pfiff durch die Finger, und das Pferd wendete sich nach Norden. Die Eisdecke war über weite Flächen von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, doch an den Stellen, wo der Wind sie freigefegt hatte, spiegelte sich der Mond wie in einer silbernen Lagune. Nach Westen hin erstreckten sich weiße Gebirgszüge bis zum Horizont. Je tiefer der Mond sank, desto mehr sahen sie aus wie Treppen, die zu ihm hinaufführten.
    »Schaut!«, sagte Hardesty zu den Kindern, und als Abby nicht gleich sah, was er meinte: »Dort drüben, Abby! Diese Berge sind die Stufen, die zum Mond führen. Möchtest du dorthin? Wir müssen nur nach links abbiegen, bevor der Mond hinter der obersten Stufe verschwindet …«
    Die Kinder dachten über das Angebot ihres Vaters nach, und ihre Gesichter waren in Mondlicht gebadet. Wie er da auf dem obersten Treppenabsatz der Berge saß, voll, perlweiß und verlockend, da konnten sie nur noch mit dem Kopf nicken. Ja, dort wollten sie hin! Für diese uralte, runde Kugel wollten sie die Erde aufgeben, von der sie noch so gut wie gar nichts kannten. Gern wären sie über die Treppe der Berge in eine andere Welt geklettert, aber dann mussten sie traurig mitansehen, wie der günstigste Augenblick verstrich, denn der Mond, wie eh und je seiner Bestimmung treu, verschwand hinter dem eisstarrenden Kamm, dessen Hänge nun im Schatten lagen.
    Sie näherten sich einem der Nebenflüsse des Hudson, der aus dem Hochgebirge kam und so schnell floss, dass er nie zufror. Schon aus einer Entfernung von mehreren Meilen war er zu hören, und als sie näherkamen, erblickten sie das lange Band aus weißschäumendem Wasser, das zornig in die Tiefe stürzte. Sie wussten nicht, dass die aufwallende Flut dieses Nebenflusses in der Eisdecke des Hudson mehrere offene Seen gebildet hatte, und galoppierten ahnungslos mit voller Geschwindigkeit in eine dieser schmalen Lachen hinein.
    Das Pferd zerteilte das Wasser in zwei weiße, auseinanderstrebende, keilförmige Wellen. Der Schlitten schlug mit einem dumpfen Klatschen auf, kippte aber ebenso wenig um wie die Stute, die, vom angeborenen Instinkt und vom eigenen Schwung getrieben, zuerst mit der Vorderhand wieder auf dem Eis Halt fand und sich dann unter Aufbietung aller Kräfte in die Höhe stemmte.
    Das Eis hielt, aber das Pferd hatte nicht die Kraft, um auch den Schlitten über die Bruchkante ins Trockene zu ziehen. Langsam füllte er sich mit Wasser. Gerade wollte Hardesty die Seinen packen, sie mit einem kräftigen Schubs nach oben aufs Eis bugsieren und danach die Stute ausspannen, bevor der randvolle Schlitten sie zurück in den Fluss und unters Eis zog. Aber er konnte sich nicht einmal mehr umdrehen, denn etwas Großes segelte über seinen Kopf hinweg und landete neben dem sich verzweifelt abmühenden Gaul.
    Ein riesiger weißer Hengst war wie aus dem Nichts erschienen und zog die Stute mit sich fort, als wäre sie in seinem Magnetfeld gefangen. Bevor Hardesty wusste, wie ihm geschah, hüpfte der Schlitten hinauf aufs Eis, und dann begann eine wilde Jagd. Sich dicht hinter dem Hengst haltend, zog die Stute den Schlitten mit der Geschwindigkeit einer Rakete hinter sich her. Die Marrattas beugten sich im kalten Fahrtwind nach vorn,

Weitere Kostenlose Bücher