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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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schrie dazu aus voller Kehle: Woolawoolawoolawoola! Woolawoolawoolawoola! Der Fahrer des Lastwagens war jedes Mal so erschrocken, dass er sich ablenken ließ und nicht auf die zwei oder drei Gestalten achtete, die aus dem Schatten auftauchten und die Fracht plünderten.
    Ein guter Woola-Boy konnte aus dem Stand fünf Fuß hoch springen. Er war auch in der Lage, so die Augen zu verdrehen, dass man nur noch das Weiße sah, während er gleichzeitig schrille Vogelrufe ausstieß. Wenn die Lastwagenfahrer sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, war es zu spät, denn dann war die Ladefläche ihrer Fahrzeuge schon halb leer.
    Wie alle anderen Berufe hatte auch die Kunst des Woolawoola ihre Raffinessen. Dorado Canes, der von Pearly auf Lebenszeit dazu verurteilt worden war, Woola-Boy zu bleiben, weil er den Anführer der Ganoven einmal einen Hurensohn geschimpft hatte – eine Beleidigung, die ihm gewiss irgendwann vergeben worden wäre, hätte sie nicht der Wahrheit entsprochen – dieser Dorado Canes war auf immer neue Tricks und Verbesserungen erpicht. Sein erstes Ziel war, höher springen zu lernen. Deshalb bepackte er sich mit Gewichten und begann zu üben. Bald brachte er es so weit, dass er beim Trainieren spezielle Gürtel und Schulterpanzer aus Blei trug, die bis zu zweihundert Pfund wogen. Die Folge davon war, dass sich seine Beinmuskulatur derartig entwickelte, dass er bald die Sprungkraft einer Stahlfeder hatte. Aus dem Stand konnte er zehn Fuß hoch in die Luft fliegen – ein atemberaubender Anblick. Eines Tages konstruierte Peter für Dorado Canes spezielle Stiefel mit stählernen Sprungfedern. Dadurch wurde die Sprunghöhe noch einmal um fünf Fuß erweitert. Allein schon die Tatsache, dass ein Mensch fünfzehn Fuß hoch in die Luft schnellen konnte, während er gleichzeitig wie von Sinnen Woolawoolawoolawoola schrie, reichte aus, um Fuhrleute und Lastwagenfahrer zu hypnotisieren. Dennoch ließ es Dorado Canes nicht damit bewenden. Er bastelte sich aus Leinwand ein faltbares Schwingenpaar. Wenn er die langen Arme ausstreckte, konnte er mit diesen Flügeln durch die Luft segeln. Jetzt brauchte er nicht mehr nur senkrecht in die Luft zu springen, sondern konnte schräg vom Boden abheben und dreißig Fuß weiter sicher landen. Bald fand er heraus, dass es ihm wegen des Luftwiderstandes der Flügel, aber auch wegen der federnden Stiefel und der Kraft seiner Beinmuskulatur möglich war, sich aus dem dritten Stock eines Hauses auf die Straße zu stürzen. Mit ein wenig Übung brachte er es auf das vierte, ja sogar das fünfte Stockwerk. Cecil Mature war davon zutiefst beeindruckt. Er wies Dorado Canes darauf hin, dass jener eigentlich sogar aus dem sechsten Stockwerk eines Hauses springen könnte, vorausgesetzt, dass er unten auf dem Dach eines Lastwagens landete. Die Höhe eines Lastwagens entspreche nämlich ungefähr einem Stockwerk, meinte Cecil. Das bedeutete, dass Dorado Canes nun sogar vom Dach vieler Wohn- und Geschäftshäuser herab operieren konnte. Er nähte sich eigenhändig einen einteiligen, engen Anzug aus schwarzer Seide, dessen Kapuze seinen Kopf fest umschloss und nur das Gesicht freiließ. Vor jeder »Aktion« schminkte er sich das Gesicht und die Hände hellrot, während er die Augenhöhlen und die Lippen purpurrot anmalte. Die Unterseiten seiner Schwingen waren gelb. In dieser atemberaubenden Aufmachung sauste Dorado Canes vom Dach eines Hauses auf die Straße hinab, baute sich vor den zu Tode erschrockenen Lastwagenfahrern auf und begrüßte sie mit den Worten: »Mein Name ist Vinic Totmule. Im Namen der Geistlichkeit, des Bürgermeisters und des Polizeichefs heiße ich euch in dieser Stadt willkommen. Hütet euch vor Blechmünzen, lasst die Finger von verdorbenen Frauenzimmern und pinkelt im Hotel nicht ins Waschbecken, wenn ihr unter eurem Bett keinen Nachttopf findet.«
    Als Peter Lake Anfang dreißig war, hatte er es nicht nur als Woola-Boy ziemlich weit gebracht, sondern er beherrschte auch die Regeln der Mechanik, hatte die Fingerfertigkeit eines Diebes und kannte sich noch immer in den seltsamen Praktiken der Sumpfmänner aus. Inzwischen hatte er die Reife erlangt, die es ihm erlaubte, sich von vielen der Ängste und Sehnsüchte seiner frühen Jugend frei zu fühlen. Seine Augen waren geschärft für die Schönheiten der Stadt, und er genoss sein Leben. Äußerlich war er ruhig und gelassen. Sein Haar lichtete sich immer mehr, aber das störte ihn nicht. Der Sinn stand ihm nur danach,

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