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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Penn, ist es mir offenbar nicht bestimmt, eine Familie von jener Art zu haben, wie Sie sie meinen. Ich glaube, ich wurde nicht geboren, um beschützt zu werden, sondern um selbst zu beschützen.«
    »Dann sind wir uns einig. Ich darf doch wohl annehmen, dass Sie den Beruf des Einbrechers aufgeben und wieder Mechaniker werden wollen?«
    Peter Lake nickte. »Ja, aber da ist noch eine andere Sache. Ich möchte Sie um etwas bitten. Über diese Bitte hinaus werde ich Ihre Hilfe nicht beanspruchen.«
    »Worum geht es?«
    »Um ein Kind. Ich habe einst vor langer Zeit ein Kind im Treppenhaus einer Mietskaserne gesehen. Nichts von all dem, was ich je erblickt habe, hat sich so nachhaltig meinem Gedächtnis eingeprägt. Ich trage diese Erinnerung seit jener Zeit mit mir herum …«
    Hier wurde Peter Lake unterbrochen. Ein ganzer Trupp von Kindern kam aus der Küche hereinmarschiert, die Backen gerötet von der Hitze des Herdes, Platten mit Speisen und Karaffen voll Wein in den kleinen Händen. Bevor sich alle zu Tisch setzten, schickte Beverly sie zum Händewaschen. Eigentlich wäre das nicht nötig gewesen, denn die Händchen waren sehr sauber, aber Beverly wollte ihren Vater umarmen und ihm dafür danken, dass er Peter Lake akzeptiert hatte. Dass dies so war, las sie von seinem und von Peter Lakes Gesicht ab. Außerdem hatte sie an der Tür gelauscht.
    *

    Später am Abend, gestärkt von einer guten Mahlzeit und er frischt von herzhaftem Gelächter, saßen Isaac Penn und Peter Lake in der kleinen Bibliothek. Sechs dicke Kloben brannten im Kamin, ihr hellrotes Glühen strahlte in den Raum wie ein stetiges Wehen, das die beiden Männer tief in ihre Sessel drückte.
    »Die Ärzte behaupteten, sie wäre in ein paar Monaten tot«, sagte Isaac Penn, als spräche er zu sich selbst. »Aber das war vor fast einem Jahr.« Er warf einen flüchtigen Blick auf eines der mit Eisblumen überzogenen Fenster, das milchig im Mondschein leuchtete. Vom Coheeries-See her kam ein Wind, wie er tief im Winter um Mitternacht nur hier wehen konnte. »Es ist mir ein Rätsel, wie sie da draußen in diesem Sturm schlafen kann«, fuhr der Hausherr fort. »Eigentlich sollte sie das nicht tun, jedenfalls nicht im Winter. Aber sogar in Nächten wie dieser bleibt sie dort oben. Ich werde mich nie an den Gedanken gewöhnen, dass sich meine Tochter dort draußen in einem Hexenkessel aus Eis und Frost aufhält. Aber morgens, nach zwölf Stunden Kälte, die einen gesunden, kräftigen Mann umbringen würde, erscheint sie ausgeruht und heiter zum Frühstück. Anfänglich bat ich sie, doch lieber ins Haus zu kommen, doch dann begriff ich, dass sie all dies auf sich nimmt, um noch eine Weile länger am Leben zu bleiben.«
    »Ich frage mich«, erwiderte Peter Lake, der keinen Augenblick vergaß, dass er sich auf einer warmen, gemütlichen Insel inmitten eines Meeres aus Schnee und Eis befand, »ich frage mich, wie es um die anderen steht.«
    »Welche anderen?«
    »Die Tausende und Abertausende, die so sind wie Beverly.«
    »Wir sind alle wie Beverly. Sie erlebt es nur vor der Zeit.«
    »Aber es muss doch nicht so sein!«
    »Was meinst du damit? Drück dich klar aus!«
    »Millionen von Armen müssten nicht so leiden und jung sterben!«
    »Die Armen? Welche Armen? Gewiss meinst du damit die Einwohner von New York, denn in New York sind sogar die Reichen arm. Ist Beverly nach deiner Definition arm? Nein! Aber was macht das schon für einen Unterschied.«
    »Der Unterschied«, antwortete Peter Lake, »besteht darin, dass es kleine Kinder gibt, deren Eltern und Väter wie wilde Tiere dahinvegetieren und ebenso verenden. Sie haben keine speziell für sie gebauten Veranden, auf denen sie schlafen, keine Daunendecken und Zobelpelze, keine Marmorwannen, die so groß sind wie Schwimmbecken, keine Heere von Harvard- oder John-Hopkins-Ärzten, keine Platten voll gebratenem Fleisch, keine heißen Getränke in Wärmflaschen aus Silber und keine fröhlichen, glücklichen Familien. Ich gönne Beverly all diese Dinge, und ich würde lieber sterben, als sie ohne sie zu wissen. Aber das ist nicht alles. Jenes Kind, das ich einst in einem Treppenhaus erblickte, war barfüßig, barhäuptig, in Lumpen gehüllt, halb tot vor Hunger, blind und verlassen. Es hatte kein Federbett, sondern es stand dort im Treppenhaus, weil es kein Lager hatte, wo es sich hinlegen und sterben konnte.«
    »Ich weiß«, bestätigte der alte Penn, »ich habe dergleichen öfter gesehen als du. Vergiss nicht, dass

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