Wintermaerchen
ich einmal ärmer war, als du es je gewesen bist. Ich war länger arm als die Zahl deiner Jahre. Ich hatte einen Vater und eine Mutter, Brüder und Schwestern, aber sie alle starben jung, allzu jung. Ich weiß Bescheid. Glaubst du, ich bin ein Narr? In der Sun , unserer Zeitung, lenken wir die Aufmerksamkeit der Leser immer wieder auf diese und jene Ungerechtigkeit und machen Vorschläge zu ihrer Behebung. Ich gebe zu, dass es in der Welt viel unnützes Leid gibt. Aber wenn du dich, wie es den Anschein hat, auf die Seite der Armen schlägst, dann solltest du auch verstehen, dass sie für ihre Mühen entschädigt werden.«
»Entschädigt?«
»Ja, denn all ihre Unternehmungen, Leidenschaften und Gefühle, ihre geistige und körperliche Unfreiheit sind mit ebensolcher Gewissheit Teile eines groß angelegten Plans wie der kaum merkliche Wechsel der Jahreszeiten und die allerwinzigsten Bestandteile des großen, allumfassenden Atems der Stadt. Das ist so, obwohl es so aussieht, als ob überall nur der Zufall herrscht. Wusstest du das nicht?«
»Ich sehe in Ihrem großen Plan keine Gerechtigkeit!«
»Wer sagt denn, dass du, ein Mensch, die Gerechtigkeit überhaupt zu entdecken vermagst?«, ereiferte sich Isaac Penn. »Wer sagt dir, dass das, was du dir in deiner Fantasie ausmalst, tatsächlich Gerechtigkeit ist? Bist du dir sicher, dass du sie überhaupt erkennen würdest – vorausgesetzt, du lebst lange genug, um ihr Kommen, das von großen Erschütterungen begleitet sein wird, noch mitzuerleben? Wie kannst du glauben, dass sich die Gerechtigkeit jemals in erkennbarer Form verwirklichen wird, sei es in deiner Generation oder in einer späteren? Wird es überhaupt je dazu kommen, solange es Menschen auf dieser Erde gibt? Was du meinst, ist gesunder Menschenverstand, nicht Gerechtigkeit! Gerechtigkeit ist etwas Höheres und wohl erst dann zu begreifen, wenn sie sich in ihrem unverwechselbaren Glanz zeigt! Der Plan, von dem ich sprach, übersteigt bei weitem unser Verständnis, doch können wir bisweilen spüren, dass es ihn gibt. Kein Choreograf, kein Architekt, Ingenieur oder Maler könnte einen gründlicheren und ausgefeilteren Plan ersinnen. Jede Handlung und jede Situation darin hat ihren Zweck. Und je weniger Macht ein Mensch hat, desto näher ist er dem großen Strom, der alle Dinge durchfließt und sie behutsam auf eine Zukunft vorbereitet, die ihre Bedeutung nicht nur aus einer simplen Gleichheit zwischen den Menschen bezieht – das wäre die Vorstellung eines Kindes! –, sondern aus einer leuchtenden Vielfalt von Verbindungen und Querverbindungen, wie wir sie jetzt noch nicht einmal erahnen können. Das goldene Zeitalter wird uns nicht Dinge vor Augen führen, die wir uns immer gewünscht haben, sondern eine nackte, ungeschminkte Wahrheit, auf der sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit beruht. Es gibt Gerechtigkeit in dieser Welt, Peter Lake, aber sie kann nicht ohne das Mysterium erlangt werden. Wir Menschen versuchen, die Gerechtigkeit zu verwirklichen, ohne genau zu wissen, woraus sie besteht. Deshalb rühren wir allenfalls an sie, aber jedes Fünkchen Gerechtigkeit, jede Flamme wird eines fernen Tages zu einem lodernden Feuer werden.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Peter verwirrt. »Ich denke vor allem an Beverly, und ich kann nicht so recht an das goldene Zeitalter glauben, von dem Sie sprechen. Auf jeden Fall werden wir es nicht erleben, von Beverly ganz zu schweigen.«
Isaac Penn erhob sich aus seinem Sessel und schickte sich an, den Raum zu verlassen. An der Tür drehte er sich um und sah Peter Lake an, der sich plötzlich einsam und verlassen fühlte. Isaac Penn war ein alter Mann, der manchmal schrecklich ernste Dinge sagte; es war dann, als umschwirrten ihn tausend unsichtbare Quälgeister. Das Feuer des Kamins spiegelte sich in seinen Augen wider. Sie wirkten wie aus einer anderen Welt, wie feurige Schächte, die in seine Seele hinabreichten. Und diese Seele hatte schon eine solche Tiefe, dass sie sich bald für immer vom Leben trennen würde.
»Ist dir noch nicht aufgegangen, dass Beverly das goldene Zeitalter gesehen hat – nicht ein früheres oder zukünftiges, sondern eines aus dem Hier und Jetzt? Ich bin ein alter Mann, doch ich habe es noch nicht geschaut. Beverly aber ist es gelungen. Das bricht mir das Herz.«
*
Die Kinder hatten sich mit dem Näherkommen des Festes in aufgeregte kleine Dynamos aus Geiz verwandelt, und am Weihnachtsmorgen fand ein eindrucksvoller Handel mit
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