Wir Wunderkinder
verwuschelten, jetzt durch Friseurkünste gebändigten Haupte wippte keck eine Feder. Sohn Karl zu ihrer Linken vermochte sie, trotz des vielen Generalssilbers auf seinem Uniformfrack, nicht zu überstrahlen, und die drei anderen inzwischen kräftig avancierten Söhne waren ihr nur ein dunkelrepräsentativer Hintergrund.
Wenn sich dennoch die Blicke und Operngläser, vor allem aus den höheren Rängen, fast ausschließlich auf Doddy richteten, so lag das daran, daß ihre dunkle Schönheit so weitgehend mit einem Dekollete bekleidet war, als es die konstruktiven Möglichkeiten eines mit seinen Restbeständen aus weißer Atlasseide bestehenden Kleides zuließen. Nicht nur mein dicker, braungoldener Klassenkamerad Bruno verschwand daneben völlig, sondern auch die, wie immer, etwas schwermütig dreinschauende Evelyna, deren hochgeschlossenes Abendkleid aus einer Art Silberlame bestand. Mich rührte diese Rückkehr zu einer Jugenderinnerung, die wohl für Evelyna auch der Traum von einem verlorenen Kindheitsglück gewesen ist.
»Siehst du«, sagte ich zu Kirsten, »die da oben sind einmal die ›Asozialen‹ in unserer Stadt gewesen. Bei der Beerdigung unseres Lateinlehrers Gorgo haben sie mit verschmierten Gesichtern, zerrissenen Hosen und baumelnden Schmutzfüßen auf der Friedhofsmauer gesessen!«
»Das hält sisch nischt!« sagte Kirsten kurz und prophetisch.
»Es wird sich leider sehr lange halten.«
Gerade dieser Logenglanz am Abend der albernen Roßkomödie ließ mich die allgemeine und die eigene Zukunft im düstersten Lichte sehen.
Und doch sollte an diesem Abend ein erstes Wetterleuchten jenem Unwetter weit vorauslaufen, das dereinst Glanz und Glorie aller Meisegeiers und Tichesse zerstören würde.
In Brunos Tagebuch finde ich darüber nur eine kurze und verhältnismäßig nichtssagende Aufzeichnung:
»Im Opernhaus sahen wir eine prima Aufführung vom ›Zigeunerbaron‹. Es war das Beste, was ich bisher in diesem langweiligen Unternehmen gesehen habe. Endlich ist ihnen mal was eingefallen, indem sie Pferde haben mitmachen lassen. Man hätte nur noch mehr Szeneriebilder bringen sollen, wie im Operettenhaus, wo sie jetzt aus jeder Operette 36 Bilder machen, auch wenn sie eigentlich bloß eins hat.
Leider hat's nach der schönen Vorstellung gebumst. Der Mischling Karl fing im Suff mit dem Stunk an, und dann hat es ihn erwischt. Aber mit seiner glatten Visage war der mir schon immer verdächtig {44} . Zum Glück wagen sie sich an Doddy nicht ran, weil d.F. von ihr als Tänzerin so begeistert gewesen ist und gesagt hat, sie entspricht unserem germanischen Körpergefühl. Heiraten will sie mich übrigens nicht. Aber es geht auch so.«
Wenn die Gerüchte zutreffen, die damals wie ein Lauffeuer durch München gingen – es gab ja immer eine allgemeine Freude, wenn ›bei den Bonzen‹ etwas passierte! –, muß sich bei der Nachfeier zum ›Zigeunerbaron‹ in der Villa Tiches folgendes abgespielt haben: Man kam sehr schnell in Stimmung, wie das in offiziellen Kreisen genannt wird. Eberhard Meisegeier zauberte und soll dabei an miteingeladenen prominenten Damen allzu unsachlich ›herumgetantscht‹ haben.
Daraufhin gab ihm General Karl, nachdem er ihn ein paarmal ermahnt hatte, eine Ohrfeige, und Eberhard brüllte ihn an:
»Ich laß mich doch von dir Judenjungen nicht anfassen!«
Dieses erstaunliche Wort rief in der Gesellschaft eine Kirchenstille hervor. Da griff Mutter Meisegeier kühn und großartig ein. Sie schlug Karl den schon gegen den Bruder erhobenen Ehrendolch aus der Hand und bekannte laut – und in einer, zugegeben, sehr viel ordinäreren Version –, sie mache sich gar nichts daraus, daß sie von dem reichen S. {45} daheim einmal ein Kind empfangen habe. Sie muß geradezu als Parodie einer antiken Mutter, ja, mit dem Rückfall in den Ton ihrer asozialen Vergangenheit, irgendwie rührend gewirkt haben.
Das sich anschließende Hin- und Hergeschimpfe, das die ganze Familie, bis auf die passive Evelyna, erfaßte, ging nun freilich so an die Wurzeln des Meisegeier-Stammbaums, daß er gefährlich ins Schwanken geriet. In der allgemeinen Schmutzige-Wäsche-Wascherei blieb kaum ein Familienmitglied uneingeseift. Zuletzt stand kein Namensangehöriger zum anderen in einem wirklichen Geschwisterverhältnis. Und noch ehe Karl von besorgten Generalskameraden hinausgebracht wurde, um mit einem Auto in unbekannter Richtung weggefahren zu werden, schrie er in die festliche
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